CHRONIK
PUSTERTALER VOLLTREFFER
SEPTEMBER/OKTOBER 2018
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schließend wurde jede Glocke
noch alleine fünf Minuten lang
geläutet. Dieser letzte Gruß
wird allen Menschen, die dies
miterlebt haben, unvergesslich
bleiben. Am 18. Juli 1959 wur-
den die Glocken vom Turm ge-
holt, in dem sie zum Teil 450
Jahre lang gewohnt hatten.
Pfarrkirche
Am 23. Juli 1950 wollte man
die Pfarrkirche sprengen. 100
Bohrlöcher mit Sprengladungen
wurden angebracht. Die Kirche
fiel jedoch nicht. Nur ein Stück
der Sakristei wurde weggerissen.
Der Pfarrer Alfred Rieper sagte
dazu immer: ,Der liebe Gott
wollte nicht, dass die Kirche an
einem Sonntag gesprengt
würde!‘ Vielleicht ist sie deshalb
am 23. Juli nicht gefallen? An
den darauffolgenden Tagen
wurde dann Stück für Stück ge-
sprengt. Vier Tage benötigte
man letztendlich. An dem Sonn-
tag, an dem die Kirche gesprengt
werden sollte, kamen viele Men-
schen und hohe Funktionäre der
Firma Montecatini, um dieses
,Spektakel‘ anzusehen. In Wirk-
lichkeit war es aber ein sehr,
sehr trauriges Ereignis. Nur für
die Grauner, die es erlebt haben,
wird dieses Bild immer in Erin-
nerung bleiben. Sie haben das
nicht vergessen. Ihnen wurde die
Heimat geraubt, ihr Allerliebstes
zerstört. Allein der alte romani-
sche Kirchturm, der schon 600
Jahre lang stand, der wurde
nicht gesprengt. Das Denkmal-
amt wollte den Kirchturm als Er-
innerung an das alte Dorf Graun
erhalten und führte deshalb
einen jahrelangen Streit mit der
Montecatini.“
Im August 1950 versank das
blühende Dorf Graun dann mit
allen Äckern und Feldern in den
Wassern des Reschenstausees.
677-ha-Stausee
Fast über Nacht waren die
Bewohner von ihren Höfen ver-
trieben und nur notdürftig ab-
gegolten worden. Außer dem
denkmalgeschützten Kirchturm
wurden alle Gebäude in Graun
und den Weilern von Arlund,
Piz, Gorf und Stockerhöfe (St.
Valentin) abgetragen und über-
Einst Dorf voller Leben
Gesamt wurden 163 Wohn-
häuser bzw. landwirtschaftliche
Gebäude gesprengt und 514 ha
Kulturfläche vernichtet. Der
Kirchturm, der seitdem traurig
aus dem Wasser ragt, ist bis
heute stiller Zeuge der Brutalität
gegenüber den Bewohnern. Vor
der Seestauung hatte das Dorf
knapp 700 Einwohner. Die mei-
sten von ihnen lebten von der
Landwirtschaft. Doch daneben
gab es auch viele Handwerker:
Tischler, Zimmermann, Wagner,
Schuster, Schneider, Drechsler,
Maurer, Bäcker, Schmied,
Weber, Müller, Elektriker, Holz-
schneider. Alle hatten nebenbei
auch eine kleine Landwirtschaft.
In Graun gab es zudem vier
Gasthäuser und vier Geschäfte,
einen Arzt und eine Hebamme
ebenfalls. Die Grauner waren
Museum Vinsch-
gauer Oberland
Das Museum im Alten Ge-
meindehaus in Graun erzählt
von der Flutung und dem
Wiederaufbau der Dörfer
Graun und Reschen. Sakrale
Gegenstände und Figuren
aus den alten Dorfkirchen er-
gänzen die Sammlung. Tel.
0039/0473-633127.
Teil des zerstörten Dorfes von Graun; das Wasser hat das Dorf erreicht.
Einer der großen Überlauftrichter am Staudamm.
flutet, genauso wie im betroffe-
nen Teil von Reschen. Es ent-
stand ein Stausee mit 677 ha
Fläche.
Es gibt viele Erzählungen
von damals. Etwa, dass eine
Frau der Macht des Wassers
nicht weichen wollte, nämlich
das „Schworz Trinele“. Sie
hatte in ihrem Haus viele Bü-
cher und Zeitschriften. Als be-
reits das Erdgeschoss ihres
Hauses geflutet war, trugen die
Carabinieri sie mit Gewalt weg.
Ihre Bücher wurden einfach aus
dem Fenster geworfen. Und als
ihr Haus dann gesprengt wurde,
schwamm ihr Hab und Gut im
Wasser herum. Das war wohl
das Schlimmste für das „Tri-
nele“. Der Verlust und das
Heimweh machte dann viele
Abgewanderte krank. So man-
che starben an dem Schmerz.