VP 2015 02 - page 22

GESCHICHTE
PUSTERTALER VOLLTREFFER
FEBER/MÄRZ 2015
22
Zero, Magda Schneider, Sophia
Loren oder Maria Callas behan-
delt.“
Wie ging man mit den Juden
zur NS-Zeit in Südtirol um?
Mayr:
„Mitglieder der jüdi-
schen Gemeinde, die Anfang der
1940er Jahre noch in Meran
leben durften und nicht wie der
Großteil der Südtiroler Juden ab
1938 aus der Provinz Bozen aus-
gewiesen wurden, wurden am
Morgen des 16. September 1943
festgenommen und den ganzen
Tag lang im Kellerraum der
‚Casa del Balilla’ in der Otto-
Huber-Straße 36 festgehalten.
Unter ihnen vor allem alte und
kranke Leute wie der kaufmän-
nische Direktor der jüdischen
Gemeinde, Wilhelm Breuer, und
seine Frau Katharina, der Kauf-
mann Moritz Götz und seine
kranke Frau Emma, die ehema-
lige Betreiberin der Pension
Vogel, Jenny Vogel, und ihre
Tochter Ernestine – ihre Pension
hatten sie schon 1940 für lächer-
liche 70.000 Lire verkaufen
müssen –, der Masseur und In-
haber einer Kefir-Anstalt, Josef
Honig, die Kaufleute Emil und
Siegfried Löwy, der Friseur
Abraham Hammer und seine
Frau Taube aus Galizien,
Charlotte Zipper aus Wien,
deren Neffe Herbert Zipper mit
Jura Soyfer das „Dachaulied“
geschrieben hatte, und andere
mehr. Im Kellerraum wurden die
Fenster vernagelt, damit keine
Schreie nach außen drangen.
Die Gefangenen mussten Lei-
besvisitationen über sich erge-
hen lassen und alles abgeben,
was sie bei sich hatten. Essen
und Trinken wurde ihnen ver-
weigert. Gegen 17 Uhr wurden
sie in das Kinogebäude an der
Rückseite des Hauses gebracht,
wo sie von pensionierten Mera-
ner Stadtpolizisten namentlich
erfasst und von SS-Hauptschar-
führer Alfons Niederwieser ver-
hört wurden. Laut Archivunter-
lagen wurden die jüdischen Ge-
fangenen amAbend des 16. Sep-
tember 1943 auf einen Lastwa-
gen der „Autotrasporti Fracaro“
verladen, der die terrorisierten
Opfer über den Jaufen- und den
Brennerpass in das ‚Arbeitser-
ziehungslager’ Reichenau bei
Innsbruck brachte. In den Wo-
chen nach dem 9. September
1943 wurden in Südtirol und an-
deren italienischen Provinzen
weitere Verfolgte mit Südtiroler
Herkunft eingekerkert und nach
Reichenau deportiert. Bis zu 50
Häuser, Villen, Sanatorien oder
Hotels allein in Meran und zahl-
reiche Geschäfte in ehemals jü-
dischem Besitz gingen ab 1939
zu Billigstpreisen an neue Besit-
zer über. Zahlreiche Wohnungen
mussten innerhalb weniger Tage
aufgelassen werden. Weitere
Wohnungen jüdischer Eigentü-
mer wurden ab 9. September
1943 beschlagnahmt, ausgeraubt
und geplündert. Am 25. Sep-
tember 1943 wird im ‚Bozner
Tagblatt’ eine Versteigerung an-
gezeigt: ‚Große Auswahl an
neu eingelangten diversen Ge-
genständen: Teppiche, Otto-
mane, Vorzimmerwand, Dauer-
brandofen, großer Gasherd mit
Bratröhre, Luster, Bilder, große
Spiegel, Roßhaarmatratzen,
Grammophon (Parlophon), Roll-
kasten, Herrenkleider, Mäntel
und diverse Nippsachen. Die
Versteigerungen gingen das
ganze Jahr über weiter.“
Welche Einzelschicksale
berührten Sie besonders?
Mayr:
„Es gibt sehr viele be-
rührende und traurige Geschich-
ten. Die zwei Frauen Terka Ber-
mann, geborene Weiss, die Gat-
tin des Hoteliers Julius Bermann,
der in der Meraner Carducci-
Straße die Pension Ortler führte,
und Katharina Zadra, geborene
Rapaport, eine Stoffhändlerin,
die ihre Waren von Haus zu
Haus ziehend anbot, wurden von
Katharinas Ehemann Leopold
Zadra, der Mitglied der SS ge-
worden war, verraten und von
Meraner Mitgliedern des SOD
(Südtiroler Ordnungsdienstes)
am Nonsberg, also im Trentino,
festgenommen. Es gibt auch
Zeugenaussagen, die dokumen-
tieren, dass Meraner bei der
Festnahme des Bankiers Martin
Krebs durch die SS am 10. Juli
1944 in Mailand anwesend
waren. Hier kommt der mensch-
liche Verrat so dermaßen deut-
lich zum Ausdruck.“
Wie viele Juden leben heute
in Südtirol?
Innerhofer:
„Heute hat die
Jüdische Gemeinde etwa 49
eingeschriebene Mitglieder.
Wenn man das Trentino dazu
nimmt, gibt es sicherlich mehr
Juden. Viele leben einfach hier
und wollen mit dem religiösen
Judentum nicht in Zusammen-
hang gebracht werden. Daher
gibt es auch Juden, die nicht
als Mitglied in der jüdischen
Gemeinde aufscheinen.“
Interview: Martina Holzer
Joachim Innerhofer | Sabine Mayr
Mörderische Heimat
Hrsg.: Jüdisches Museum
Meran
Mit einem Vorwort
von Peter Turrini
Preis: 24,90 €
16,5 x 24,5 cm | 472 Seiten
Aziade Gabay, Adele Srakosch, Marianne und Alfonso Gabay auf der Meraner Passerpromenade.
Die Autoren Sabine Mayr und Joachim Innerhofer
1...,12,13,14,15,16,17,18,19,20,21 23,24,25,26,27,28,29,30,31,32,...48
Powered by FlippingBook