OSTTIROLER
NUMMER 5-6/2017
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HEIMATBLÄTTER
zur katholischen Kirche zu bekennen,
indem sie deren Glaubensbekenntnis ableg-
ten, oder auszuwandern, wenn sie das ver-
weigerten. Die Zeit des Hinhaltens und Aus-
weichens war vorbei. Wer auf seiner evan-
gelischen Konfession beharrte, musste Hab
und Gut verkaufen und die Heimat verlas-
sen. Reichsrechtlich war das Vorgehen Salz-
burgs gedeckt durch die Bestimmungen des
Artikels V des Friedensschlusses von Osna-
brück vom Oktober 1648, der unter anderem
auch die konfessionellen Streitfragen im
Reich zu lösen suchte und zu diesem Zweck
1624 als „Normaljahr“ und Kriterium des
Besitzstandes der drei anerkannten Konfes-
sionen, katholische, lutherische (Augsburger
Bekenntnis) und reformierte (calvinistische),
festlegte. Aber Salzburg trickste, indem es
die Deferegger Protestanten als Sektierer
einstufte und sie nicht als Angehörige der
reichsrechtlich geschützten Augsburger
Konfession anerkannte, obgleich sich die
Betroffenen selbst als Lutheraner verstanden
und als solche von ihren Glaubensgenossen
im Reich akzeptiert wurden. Damit waren
die Deferegger Protestanten aller Begünsti-
gungen und Schutzrechte beraubt, die
gemäß Reichsrecht die Härten der Zwangs-
emigration abmildern sollten, etwa eine
Auswanderungsfrist von drei bis fünf Jah-
ren. Vielmehr mussten sie, herabgewürdigt
zu Sektierern, binnen weniger Wochen, so-
bald der Ausweisungsbefehl vorlag, aus dem
Tal und aus dem salzburgischen Hoheits-
gebiet unverzüglich abwandern, wobei sie
ihren unmündigen Nachwuchs, Kinder und
Jugendliche unter 15 Jahre, zurückzulassen
hatten, und ihnen war aufgetragen, Haus und
Hof zu verkaufen, wobei als Käufer nur ver-
lässliche Katholiken zugelassen waren.
Diese brachialen und schäbigen Methoden,
vor allem gegenüber den Kindern, erregten
Aufsehen und Unmut, evangelische Fürsten
und die evangelischen Reichsstände versuch-
ten zu intervenieren, zum Teil mit Erfolg:
1690 und 1691 wurde den Deferegger Emi-
granten durch ein kaiserliches Edikt für die
ehemals tirolischen Untertanen bzw. ein erz-
bischöfliches Edikt für die ehemals salzburgi-
schen Untertanen unter ihnen gestattet, ihre
Kinder abzuholen und zu sich zu nehmen.
Bis dahin hatten sich einige verzweifelte
Eltern damit beholfen, die eigenen Spröss-
linge bei Nacht und Nebel aus der Obhut
ihrer katholischen Zieheltern zu entführen.
Salzburg war vor allem daran gelegen,
nachdem alle Bekehrungsversuche ge-
scheitert waren, die Protestanten schleu-
nigst und rücksichtslos aus dem Land zu
schaffen. Das drohende Schicksal der
Zwangsemigration vor Augen, schickten
diese Abgesandte in den süddeutschen
Raum, die dort Kontakte knüpfen und er-
kunden sollten, wo die Vertriebenen eine
neue Heimat finden könnten. Die ersten
Emigrantentrecks mussten sich im De-
zember 1684 auf den Weg machen, bis
zum Sommer 1685 waren die Protestanten
in kleinen Gruppen aus dem heimatlichen
Tal abgewandert in Richtung Süddeutsch-
land, evangelische Reichsstädte wie Augs-
burg, Nürnberg und Ulm waren ihre Ziel-
orte. Im Tiroler Teil des Defereggen, in
St. Jakob, hatte der Protestantismus nicht
derartige Ausmaße angenommen, nicht zu-
fällig war hier die kleine Enklave Feistritz
die Keimzelle. Im Frühjahr 1685 mussten
auch die „Tiroler“ Protestanten, 51 an der
Zahl, ihr Heil in der Fremde suchen. Aus
dem salzburgischen Teil des Tales hatten
bis Ende Juli 1685 570 Glaubensflücht-
linge oder Exulanten zu weichen, die Pro-
testanten mussten 289 Kinder unter 15
Jahren zurücklassen. Einschließlich der ab
1690/91 heimgeholten Kinder verlor das
Defereggental durch die Glaubensvertrei-
bung zwischen 800 und 900 Menschen,
das war angesichts einer Gesamtbevölke-
rung von rund 2.800 Einwohnern ein ge-
waltiger demographischer Aderlass.
Literatur (in Auswahl):
Grete M
ECENSEFFy
, Täufer in Tirol, in: Festschrift zur 100-
Jahr-Feier der evangelischen Gemeinden Innsbruck und
Meran, Innsbruck 1975, S. 20-25.
Roman D
EMATTIA
, Die Wiedertäufer im Pustertal, in: Der
Schlern, 70. Jg. (1996), S. 291-310.
Alois D
ISSERTORI
, Die Auswanderung der Deferegger Pro-
testanten 1666-1725 (Schlern-Schriften 235), 3. Aufl.,
Innsbruck 2008.
Ute K
ÜPPERS
-B
RAUN
, Zerrissene Familien und entführte
Kinder. Staatlich verordnete Protestantenverfolgung im
Osttiroler Defereggental (1684-1691), in: Jahrbuch für
die Geschichte des Protestantismus in Österreich 121
(2005), S. 91-168.
Die von Kardinal und Fürsterzbischof Ma-
ximilian Gandolph von Kuenburg von
Salzburg für die Kirche von St. Veit in De-
fereggen zur Erinnerung an die Austrei-
bung der „Häresie“ aus dem Tal gestiftete
Glocke; Guss von Lukas Graßmayr, Inns-
bruck, 1687.
Foto: Meinrad Pizzinini
„Baracken-
kirche“, erstes
evangelisches
Gotteshaus im
Bezirk Lienz,
errichtet im
Jahr 1947.
(Fotosamm-
lung ev. Pfarre
A. B. Lienz)
Einfacher
Altar in der
evangelischen
Lienzer
„Baracken-
kirche“.
(Fotosamm-
lung ev. Pfarre
A. B. Lienz)
Im Jahr 1687 stiftete Maximilian Gan-
dolph von Kuenberg, Fürsterzbischof von
Salzburg, für die Kirche in St. Veit i. D.
eine Glocke zum Dank für die aus „diesem
Tal gänzlich ausgerottete Häresie“.
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Da-
nach und auch nach dem Toleranzpatent
von Joseph II. im Jahre 1781 ist nichts von
einem evangelischen Bekenntnis im Be-
reich des heutigen Bezirks Lienz zu erfah-
ren.
Die Entwicklung der Lienzer Seelsorge-
station bis hin zur selbstständigen Pfarre
Hans Hecht
Evangelische Pfarrgemeinde A. B. Lienz