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CHRONIK

PUSTERTALER VOLLTREFFER

AUGUST/SEPTEMBER 2016

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Beim Interview sitzt einem

ein völlig ruhiger Mann gegen-

über. Gut gekleidet, beste Ma-

nieren, sehr gute Ausdrucks-

weise, beruflich ist er in der

Gastronomie tätig. Mit dem

Satz: „Erst jetzt komme ich

immer mehr dahinter, wie ich

funktioniere und kann entspre-

chend reagieren“, beginnt Peter

L. über seine Diagnose ADHS,

die er vor zehn Jahren erhielt,

zu sprechen. Seit der Krank-

heitsbestimmung sei er immer

wieder in Therapie und nehme

Medikamente. „Ich arbeite hart

an mir. Heute kann ich sagen,

dass ich mich gut fühle.“

Erst über eine Freundin, die

im medizinischen Bereich ar-

beitet, wurde er dazu angesto-

ßen sich auf ADHS hin unter-

suchen zu lassen. „Sie empfand

mich als viel zu hektisch, zu

wenig aufmerksam, unbestän-

dig, völlig chaotisch. Auch

mein Redefluss sei teilweise zu

viel und anderes mehr. Ich ging

aber nicht gleich zumArzt, son-

dern war ein Jahr lang stink-

sauer auf sie. Ich fühlte mich

durch ihre Aussage stark abge-

wertet. ‚Ich bin doch nicht ver-

rückt‘, dachte ich.“

Kindheit

Doch Peter las sich heimlich

in die Krankheitsdefinition ein.

„Ich durchsuchte das Internet

nach ADHS, besorgte mir

Fachbücher. Denn ich erkannte

mich in der Beschreibung von

ADHS-Betroffenen zu 100 Pro-

zent wieder“, musste sich der

44-Jährige eingestehen. Er war

mit zwei Geschwistern in einer

kleinen Wohnung im Raum

Lienz aufgewachsen. Der Vater

war Beamter, die Mutter Haus-

frau. „Ich war das älteste Kind

und quälte meinen jüngeren

Bruder immer bis aufs Blut, so-

bald ich Kraft hatte. Meine

Mutter war oft verzweifelt. Sie

wusste einfach nicht, was sie

mit mir machen sollte“, erinnert

er sich. „Ich fühlte mich von

meinen Eltern immer ungerecht

behandelt. Oft wusste ich gar

nicht, warum sie mit mir

schimpften. Ich begriff es ein-

fach nicht.“ Peter ging zwar in

den Kindergarten, aber es gab

nur Probleme mit ihm.

„Tat anderen immer weh“

„Ich riss an anderen Kindern

herum, tat ihnen weh. Wann

immer ein Kind etwas Schönes

mit Bausteinen baute, fühlte ich

den unbändigen Drang, es zu

zerstören. Ich weiß gar nicht

warum. Aber ich ,haute‘ mich

mit vollem Körpereinsatz auf

das Aufgebaute, und schon

hatte ich wieder die Schimpfe-

reien der Tanten am Hals.

Manchmal fragte ich mich, warum

sie mit mir jetzt schimpfen. Ich

sah dies gar nicht ein und fühlte

einfach nur Chaos im Kopf.“

Der Schuleinstieg war eben-

falls ein schwieriges Thema,

denn die Volksschule wollte ihn

vorerst nicht nehmen. „Man

sagte meiner Mutter, sie solle

mich in die Sonderschule

geben. Aber sie wehrte sich da-

gegen, weil sie davon überzeugt

war, dass ich die Volksschule

schaffen kann.“

Ein geprügelter Knabe

So landete er doch in der

Volksschule. „Ich hatte eine sehr

gute Lehrerin, die mich aller-

dings sehr ‚niederbügelte‘. An-

ders hätte sie mich wohl nicht

bändigen können.“ Auch da-

heim wurde Peter zunehmend

härter angefasst. „Andauernd

wurde ich wegen etwas ge-

schimpft oder manchmal ge-

schlagen. Ich weiß, dass ich oft

furchtbar wütend auf meine El-

tern war, auch auf meine Ge-

schwister, die vor mir regelrecht

beschützt werden mussten. Da-

mals konnte ich das gar nicht er-

kennen.“ Regelrecht sprachlos

war Peter als er zufällig ein Te-

lefonat seiner Mutter mithörte,

in dem sie die Problematik mit

ihrem ältesten Sohn erklärte. Sie

betonte, dass sie sein Verhalten

nicht mehr verkraften könnte

und um einen Tagesplatz im

SOS-Kinderdorf anfragte. „Ich

war baff, verstand die Welt nicht

mehr. Ich hörte noch, wie man

ihr gleich am Telefon eine Ab-

sage erteilte. Ich empfand meine

Mutter von da an nur mehr als

Verräterin.“

„Fühlte mich nie

schuldig“

„Mein Verhalten war für mich

ja völlig in Ordnung. Ich konnte

nicht wahrnehmen, wie schwer

es meine Umwelt mit mir hatte.

Obwohl meine Eltern immer

wieder in sehr langen Gesprä-

chen versuchten mit mir zu spre-

chen, mich um Besserung baten,

mir alles Mögliche versprachen,

damit ich mich nicht mehr so

aufführen würde. Aber nichts

Peter L., der am

Eingang des Puster-

tales seine Kindheit

und Jugend ver-

brachte, leidet an

ADHS (Aufmerksam-

keitsdefizit-/Hyperakti-

vitätsstörung). Das

weiß der heute

44-Jährige seit zehn

Jahren. Erst durch das

Erkennen und

Benennen seiner

Störungen und der

folglichen Behandlung

konnte er seiner

persönlichen Hölle

entgehen.

Als ADHS-Betroffener ist man gegenüber Lärm oder Stress besonders empfindlich. So auch Peter,

der unter anderem deshalb schon als Kind unter „viel Chaos“ im Kopf litt.

Seine psychiatrische Erkranku