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CHRONIK

PUSTERTALER VOLLTREFFER

AUGUST/SEPTEMBER 2016

19

dann unmöglich. Ich lief dann

oft in eine stille Ecke, um wieder

‚runterzukommen‘.“

Bestimmte Gefühle waren

bei ihm aber immer präsent:

„Ich fühlte mich zutiefst ein-

sam, unverstanden und unge-

liebt. Meine Eltern kamen mir

eiskalt und lieblos vor. Ich hatte

nur mich. So kam es mir zu-

mindest vor.“

Lehre vorerst gescheitert

Nach der Schulzeit sollte

Peter eine Lehre beginnen. Die

Suche nach einer Stelle dauerte

zwei Jahre. Er kam letztendlich

nach Innsbruck, lebte dort al-

leine in einer Mietwohnung, die

seine Eltern finanzierten. „Das

Alleinleben ging heillos schief.

Anstatt mich um meine Lehre

zu kümmern, vertrödelte ich

meine Zeit ständig, war völlig

unfähig, mich zu organisieren,

hatte auch null Motivation, in

der Früh aufzustehen, und blieb

bis in den Nachmittag hinein

im Bett.“ Seine Eltern zogen

einen Schlussstrich. Sie setzten

Peter kurzerhand vor die Tür

und untersagten ihm jede wei-

tere Unterstützung. „Das war

furchtbar hart für mich. Ich

wusste nicht wohin, wusste

nicht, was ich tun sollte, fühlte

mich wie der einsamste

Mensch auf Erden.“ Er hatte

noch eine Telefonnummer sei-

nes Großvaters, der in Ober-

österreich lebte und bettelte ihn

um Unterkunft an. „Er sagte zu

„Wollte etwas schaffen“

Von da an beschloss er aber –

komme, was wolle – aus seinem

Leben etwas zu machen. Und er

schaffte es tatsächlich eine Lehr-

stelle in der Gastronomie in

Oberösterreich zu ergattern.

Aufgrund seines hohen Einsat-

zes bekam er viel Lob von sei-

nen Chefleuten. Doch seine

Kollegen hassten ihn. Er

schnappte ihnen regelrecht die

Arbeit weg, um sich zu profilie-

ren. Teamarbeit war für ihn nur

ein Wort. „Es war mir völlig

egal, was meine Kollegen über

mich dachten. Ich wollte nur

sehr gut sein.“ Als eines Tages

seine Kollegen wegen ihm kün-

digen wollten, entschieden sich

seine Chefleute letztendlich auf

Peter zu verzichten. „Das war

ein herber Schlag. Ich verstand

die Welt nicht mehr. Mein Groß-

vater erfuhr von den Gründen

und versuchte mir mit unglaub-

licher Geduld nahe zu bringen,

dass ich lernen müsse, im Team

zu arbeiten. Zum ersten Mal

hörte ich jemandem wirklich zu

– vergaß das Gespräch aber

schon am nächsten Tag wieder.“

Hürdenlauf

Peter schaffte es in einem an-

deren Betrieb seine Lehre zu be-

enden, doch behalten wollte man

ihn dort nicht. „Man sagte mir,

half.“ Peter schaffte die Volks-

schule und auch die Haupt-

schule. „Aber die Zeit in der

Hauptschule war eine besonders

dunkle Zeit für mich. Ich wurde

nur gemobbt, hatte nur einen

Freund. Ich ging dann oft nicht

in die Schule, versteckte mich

den ganzen Vormittag irgendwo,

bis ein Lehrer meine Mutter ver-

ständigte und ich dann stark

kontrolliert wurde.“

„Mit leeren Händen“

Wann immer es in der Fami-

lie etwas zu feiern gab, kam

Peter immer mit leeren Hän-

den. Er zeichnete oder bastelte

nichts für seine Eltern oder Ge-

schwister. „Sie aber schenkten

mir immer etwas. Aber ich

hatte nicht das geringste Be-

dürfnis ihnen etwas zu schen-

ken. Es wäre mir gar nie in den

Sinn gekommen. Mir waren sie

irgendwie alle egal.“

Peters minderes Selbstwertge-

fühl erkannte man an seiner ge-

bückten Körperhaltung. Er hatte

auch vor vielen Dingen Angst

und war äußerst empfindlich ge-

genüber Lärm, Stress, den an-

dere erzeugten, bestimmten Ge-

rüchen oder Stoffen. „Ich war

auch wegen jeder Kleinigkeit so-

fort abgelenkt, konnte nie ruhig

und nur wenig konzentriert sein

und hatte immer wieder schnell

Chaos im Kopf. Denken war

dass meine Kollegen mich auf-

grund meines Verhaltens nicht

aushalten könnten. Ich blendete

mein Scheitern einfach aus und

suchte nach einem Arbeitsplatz.

Nach ca. zehn Anläufen schaffte

ich es dann, in einem Familien-

betrieb, in dem wirklich nur Fa-

milienmitglieder arbeiteten, län-

ger als drei Monate zu sein.

Nämlich zwei Jahre. Dann wollte

ich selbst wieder in einen ande-

ren Betrieb“, erzählt Peter, der

auch über lange Phasen in

schwere Depressionen schlit-

terte. „Das ist Gott sei Dank Ver-

gangenheit“, ist er erleichtert.

Mittlerweile nennt er drei sehr

gut florierende Restaurants mit

gehobener Küche in Wien und

Umgebung sein Eigen. „Diesen

Erfolg konnte ich erst landen,

nachdem ich meine psychiatri-

sche Erkrankung erkannt und in

Angriff genommen habe.“ In der

Zwischenzeit hat er auch zu sei-

nen Eltern und Geschwistern ein

gutes Verhältnis. „Sie sind sehr

stolz auf mich. Das tut unheim-

lich gut und ich bin unsagbar

froh.“

Martina Holzer

und bezahlte mir auch die Zug-

fahrt. Ich weinte die ganze

Fahrt über bitterlich.“

Marcello Cont

Direktion Sozial-

dienste, Bruneck

Wie sehr sind Menschen im

Pustertal von Armut betroffen?

Cont:

„Im Pustertal ist die An-

zahl der hilfesuchenden Men-

schen für eine finanzielle Unter-

stützung in den vergangenen Jah-

ren stark angestiegen. Die

Hauptgründe dafür sind ein un-

zureichendes Einkommen und

die schwierigen Lebenslagen der

Betroffenen, bedingt durch fami-

liäre Probleme oder Krankheit.

Die Betroffenen sind zu 70 %

Menschen zwischen 18 und 55

Jahren. Aufhorchen lässt, dass

ein Drittel der Antragsteller für

eine finanzielle Unterstützung ar-

beitet und ein monatliches Ein-

kommen bezieht. Dieses aber zur

Deckung der Grundbedürfnisse,

wie Nahrung und Kleidung,

nicht reicht. Für die Betroffenen

macht nicht nur der Mangel an

Geld die menschliche Armut aus.

Genauso schwer wiegen für sie

die fehlenden Perspektiven und

der Mangel am öffentlichen

Leben teilzunehmen. Die Erfah-

rung der Fachkräfte der Sozial-

dienste zeigt, dass ein Leben in

Armut bei den Betroffenen

starke Schamgefühle auslöst.

Rückzug, Isolation und Krank-

heit sind dann beobachtbare

Konsequenzen.“

Wie ist zu reagieren?

Cont:

„Um die armutsbetrof-

fenen Menschen wieder ver-

stärkt in die Gemeinschaft ein-

zubinden, plant der Sozialspren-

gel Bruneck/Umgebung eine

Weiterbildung. Die Initiative

nennt sich ‚time sharing’ und

will sozial sensible Personen für

ein Teilen (sharing) der eigenen

Zeit (time) mit armutsbetroffe-

nen Menschen motivieren. Kon-

kret könnte das heißen, dass

diese als Wanderer, Radfahrer

oder Kino- bzw. Konzertbesu-

cher periodisch ihre Freizeiter-

lebnisse mit einem Armutsbe-

troffenen teilen. Der kostenlose

Kurs sieht zehn Abendeinheiten

vor und findet in Bruneck statt.

Mit dem Besuch der Weiterbil-

dung geht man keine Verpflich-

tung für eine künftige Tätigkeit

ein. Die Anmeldungen zur Wei-

terbildung nimmt der Sozial-

sprengel Bruneck/Umgebung

(Tel. 0039/0474-555548) bis

zum 30. September entgegen.“

Armut kann in Südtirol alle Al-

tersschichten treffen.

ng ließ ihn oft scheitern

Das Krankheitsbild ADHS gibt es schon lange, wie auch das Ge-

mälde „Unterbrochene Mahlzeit“ (1838) von Heinrich von Ru-

stige zeigt. Das Bild diente als Vorlage für die Figur des Zappel-

philipps im Bilderbuch „Struwwelpeter“ (1845).