CHRONIK
PUSTERTALER VOLLTREFFER
JUNI/JULI 2016
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Maria S. aus dem Pus-
tertal arbeitet seit zwei
Jahren mit einem Psy-
choanalytiker die trau-
matischen Kriegserleb-
nisse ihrer Eltern auf.
„Ich leiste die Trauerar-
beit, die meine Eltern
nicht leisten konnten“,
erzählt die Angestellte.
Die heute 55-Jährige blättert
immer wieder in Büchern des
Zweiten Weltkrieges, versucht
sich dadurch mit den Erfahrun-
gen ihrer Eltern auseinanderzu-
setzen, „die ganz furchtbar
waren“, weiß sie seit einigen
Jahren aus eigenen Recherchen.
„Ich erfuhr vieles über andere
Verwandte und Bekannte oder
aus Niederschriften. Meine
Eltern erzählten mir von ihren
Kriegserlebnissen nie etwas.
Sie schwiegen, und jede Äuße-
rung von Aggressivität war
ihnen zudem unerträglich.“ Und
was Maria mithilfe eines The-
rapeuten mittlerweile erkannte:
„Meine Eltern haben ihre un-
verarbeiteten Traumatisierun-
gen an mich weitergegeben. Sie
gehören zu den wenigen Juden,
die die Shoa (nationalsozialisti-
scher Völkermord an den Juden
Europas) überlebten“, so Maria.
bare Wut in mir, wusste aber
nicht, auf was ich so wütend
war. Zudem hatte ich eine sol-
che Abscheu vor mir selbst und
zweifelte an meiner Existenzbe-
rechtigung.“ Für die Umgebung
waren die Zustände Marias
immer ein Rätsel. Denn Maria
wuchs scheinbar wohlbehütet
auf. Die Eltern wollten für ihr
einziges Kind ganz offensicht-
lich immer nur das Beste. Es
gab keine Geldsorgen.
Transgenerationale
Übertragung
Doch oftmals „landete“ sie in
Psychiatrien bis man erstmals
erkannte, dass die Kriegserfah-
rungen ihrer Eltern für das Lei-
den von Maria verantwortlich
waren. „Denn traumatische Er-
fahrungen, die von Betroffenen
nicht verarbeitet und integriert
werden können, bleiben nicht
nur für diese selbst eine lebens-
lange Belastung. Sie zeigen sich
auch in den Träumen, Phanta-
sien, im Selbstbild und unbe-
wussten Agieren ihrer Nach-
kommen. Wie im Fall Marias.
Maria hat die Traumatisier
Die Einfahrt des Nazilagers Auschwitz, Polen 1945. Das Bild entstand nach der Befreiung, im Vor-
dergrund von den Wachmannschaften zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände. Hier erlebte auch
der Vater von Maria eine furchtbare Behandlung.
Die 55-
Jährige
leidet
noch
sehr
unter
den
Kriegs-
erleb-
nissen
ihrer
Eltern,
die ihre
unver-
arbeite-
ten
Trau-
matisie-
rungen
an ihr
Kind
weiter-
gaben.
„War immer wütend“
Sie wuchs als Einzelkind in
München auf und litt schon früh
an psychischen Störungen wie
Ängsten (vor allem an erhebli-
chen Verlustängsten), Depres-
sionen, Gefühlen von (Selbst)-
Fremdheit und innerer Leere,
Herzrasen, chronischen Schmer-
zen oder Krämpfen. „Und ich
trug immer schon eine furcht-