VP 2015 04 - page 12

INTERVIEW
brauchen eine Verwurzelung in
der Realität, bevor sie der Vir-
tualität ausgesetzt sind. Ihr Ge-
hirn entwickelt sich besser,
wenn kein Tablet-PC oder
Smartphone reale Welterfah-
rung verhindert. Die Voraus-
sage des Internetpioniers Jaron
Lanier darf nicht eintreffen:
‚Du bist nicht der Kunde der
Internetkonzerne. Du bist ihr
Produkt‘.“
Wie schaut es mit dem Spei-
chern der Daten der User aus?
Hensinger:
„Über Smartpho-
nes, Facebook und Internet
werden Daten auch schon von
Kindern und Jugendlichen ge-
sammelt. Jeder Google-Klick
wird heute von rund 50 Stellen
wie Behörden oder Datenagen-
turen gespeichert. Die Daten-
agenturen gehören mittlerweile
zu den größten Industrieberei-
chen. Die Perfektionierung der
Überwachung wird derzeit
unter dem Mantel ‚fortschritt-
lich und kostenlos‘ in den Städ-
ten mit WLAN HotSpots voll-
zogen. ‚Freies WLAN‘ heißt
freie Daten für die Industrie. Im
Auftrag von Kaufhausketten
und lokalen Händlern werden
über WLAN die Bewegungsda-
ten und das personalisierte
Kaufverhalten der Bürger von
Privatfirmen erfasst.“
Wie muss man sich diese
Überwachung vorstellen?
Hensinger:
„Sie geschieht
heute überall. Sie betreten in
der Shopping-Mall ein Schuh-
geschäft. Ihr Smartphone loggt
sich über WLAN ein. In Echt-
zeit meldet das System dem
Verkäufer, dass Sie der Schuh-
typ High Heels sind und im In-
ternet bereits danach gegoogelt
haben. Jede ihrer Suchanfragen
wurde von mehr als 50 Firmen
abgespeichert und verarbeitet.
In dem Shop werden Sie von
kleinen, in den Regalen ver-
steckten Bluetooth-Sendern,
sogenannten Beacons, ausge-
forscht. Über sie erfährt der
Verkäufer, welche Produkte Sie
sich anschauen, wie er sein Sor-
timent optimieren und für Sie
neue Angebote stricken kann.“
Kann man konkrete Unter-
nehmen nennen?
Hensinger:
„Der Versicherer
Generali etwa lockt Kunden mit
einer ermäßigten Krankenver-
sicherung, wenn Sie per App be-
legen, dass Sie Sport treiben.
Versicherungen werden zukünf-
tig speichern, was Sie im Super-
markt einkaufen, ob Sie rauchen,
wie viel Alkohol Sie konsumie-
ren, welche Risikosportarten Sie
betreiben, auch ihr Fahrverhalten
im Verkehr. Auf dieser Grund-
lage wird die Prämie festgesetzt,
werden Sie erst gar nicht ver-
sichert oder wird Ihnen gar ge-
kündigt. Versicherungen wer-
den billiger, wenn man die
Überwachung akzeptiert.“
Das Smartphone ist somit
das ideale Datensammel-,
Überwachungs- und Manipu-
lationsinstrument?
Hensinger:
„Ja. Die Soft-
ware, mit der die Daten abge-
griffen werden, kann in verein-
fachter Version jeder kaufen. In
den Apps sind die Spionage-
funktionen versteckt. Auf der
Homepage der Software mSpy
wird das Spionieren für jeder-
mann angeboten: mSpy ist eine
Anwendung für Smartphones,
die im Hintergrund ausgeführt
wird und so unauffällig SMS,
PUSTERTALER VOLLTREFFER
APRIL/MAI 2015
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Was sind die positiven Reize
und Belohungen, die der User
im Netz bekommt?
Hensinger:
„Die Konstruk-
tion der Geräte, vieler Spiel-
und e-Learning Programme
basieren auf der Vorstellung der
Verhaltensforschung des Beha-
viorismus, mit Reiz, Reaktion
und Belohnung (positive Ver-
stärkung) den Menschen belie-
big zu konditionieren, also
dressieren zu können. Ich habe
das im Urlaub im Gsieser Tal
einmal selbst erlebt. Ein
Jugendlicher kam mit seinen
Eltern auf einemAlmbauernhof
an. Die erste Frage war: Ist hier
Empfang? Wenn nicht, stürzt er
in eine Krise. Sein Belohnungs-
und soziales Bezugssystem
fehlt. Abschalten bedeutet für
so einen Jugendlichen versäu-
men, gefühlte Isolation.
FOMO, Fear of Missing Out,
wird dieses neue Krankheits-
bild genannt.“
Was sollte man also beach-
ten?
Hensinger:
„Die Jugendli-
chen müssen es lernen, souve-
rän mit den Medien umgehen
zu können, sie als Hilfsmittel
einzusetzen, aber auch Pausen
einlegen können. Wer erzieht
sie zum einem kritischen Welt-
verständnis, wenn es von vorne-
herein durch Google und Da-
tenkraken gefiltert und manipu-
liert wird? Man muss also zur
Medienmündigkeit erziehen.
Dazu braucht es in der realen
Welt menschliche Nähe, Spaß
beim Sport, ein Instrument zu
spielen, Gemeinschaftserleb-
nisse in der Klasse, und
Hobbys, die Fähigkeiten ent-
wickeln.
Heranwachsende
Buchempfehlungen
von Peter Hensinger
• Bleckmann, Paula (2012): Me-
dienmündig. Wie unsere Kin-
der selbstbestimmt mit dem
Bildschirm umgehen lernen,
Stuttgart
• Lembke Gerald / Leipner
Ingo (2015): Die Lüge der di-
gitalen Bildung. Wie unsere
Kinder das Lernen verler-
nen, München
• Spitzer, Manfred (2012): Die
digitale Demenz. Wie wir
uns und unsere Kinder um
den Verstand bringen,
München
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