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ZEITZEUGIN
PUSTERTALER VOLLTREFFER
APRIL/MAI 2015
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land) litt mit der Familie Leiter
sehr mit. Sie war Zwangsarbei-
terin und arbeitete damals auf
dem Asthof. Sie und viele
gleichaltrige Mädchen wurden
aus ihrer Heimat verschleppt und
in Osttirol zur Arbeit eingesetzt.
„Man drängte sie in Viehwag-
gons hinein und brachte sie am
29. August 1942 nach Lienz. Von
schreienden und brüllenden Ge-
stapomännern wurden sie aus
den Waggons gejagt und wie
Vieh auf den Lienzer Hauptplatz
getrieben. Von ihren zukünftigen
Arbeitgebern mussten sie dort
abgeholt werden. Unser Vater hat
es sein Leben lang nicht mehr
vergessen, wie diese Leute in
Lienz ankamen. Da sah man nur
mehr verweinte, verschreckte
Gesichter, hungernde und durs-
tige junge Menschen. Ohne jedes
Reisegepäck kamen sie an.“ Die
Bauern, denen eine Arbeitskraft
zugeteilt war, sollten sich jetzt
selbst eine Person aussuchen und
mitnehmen. „Unser Vater sollte
auch für einen anderen Bauern
eine Magd mitbringen. In der
Menge sah er zwei Mädchen, die
sich fest aneinanderklammerten.
Ohne zu überlegen nahm er die
beiden mit. Es waren Maria und
ihre Cousine Dania. Sie verstan-
den damals noch kein Wort
Deutsch. Maria blieb bei uns auf
dem Asthof, Dania kam auf den
Kolechner-Hof. Anfangs weinte
‚Marie‘ – wie wir sie nannten –
sehr viel. Doch recht schnell
lebte sie sich bei uns ein und
lernte unsere Sprache zu verste-
hen.“
Verhängnisvolles
heimliches Treffen
Die junge Zwangsarbeiterin
musste auf ihrer Kleidung gut
ersichtlich den Aufnäher „OST“
(für Ostarbeiter) tragen. „Maria
und andere Menschen aus Russ-
land und Polen, die auf den hie-
sigen Höfen zur Zwangsarbeit
der geschlagen Zwischendurch
wurde ihnen immer wieder ein
Schopf Haare abgeschnitten.“
Einige Tage lang blieb Marie
nach demVorfall arbeitsunfähig.
Hinrichtung
Auch musste sie mitan-
schauen, wie ein Pole erhängt
wurde (schattseitig, bei der
„Schintabrücke“, gegenüber der
Euroclima). Ein Befehl der Ge-
stapo. „Der Pole hatte sich in
ein einheimisches Mädchen
verliebt und dieses auch ge-
schwängert. Somit – wie man
es damals formulierte – ‚schän-
dete‘ er deutsches Blut. Darauf
stand der Tod.“ Das Mädchen
musste ins KZ. Sichtlich be-
nommen kam Marie von der
Hinrichtung zurück auf den
Asthof. „Sie setzte sich nieder
und weinte erbärmlich.“
Marie wollte viele andere
nach Kriegsende zurück in die
Heimat. „Mitte Juni 1945 fuhren
diese ‚Heimkehrer‘ mit einem
eigenen Transportzug in Lienz
weg. Wie der Historiker Martin
Kofler wusste, seien diese armen
Menschen allerdings nur bis in
den Raum Judenburg-Semme-
ring gekommen. Dort wurden
sie von der russischen Besat-
zung erschossen.“
Wiederaufbau des
Hofes
Obwohl noch Notzeiten
waren, begann die Familie Lei-
ter nach dem Krieg mit dem
Wiederaufbau des Asthofes.
„Nicht nur Lebensmittel, son-
dern auch Baumaterialien waren
noch schwer zu bekommen. Von
den Ämtern und Behörden aus
wurde Kriegsbeschädigten zu-
erst geholfen. Aber nur schwach
28 % von den Kosten des Roh-
baues übernahm der Staat“, so
Maria. Die Brandschadenversi-
cherung kam für Kriegsschäden
nicht auf. So blieb der Großteil
der Baukosten dem Bauherrn
selbst. „Die hiesigen Leute
haben viel arbeiten geholfen.
Der Baugrund wurde mit Pickel
und Schaufel ausgehoben. Ge-
mauert wurde mit Steinen vom
Steinbruch in Panzendorf.“ Vor
Weihnachten 1948 konnte
Familie Leiter in das neue Haus
einziehen. Maria arbeitete nach
ihrer Volksschulzeit daheim im
Haushalt und in der Landwirt-
schaft. „Als dann meine jünge-
ren Schwestern nachkamen,
gingen wir abwechselnd in eine
landwirtschaftliche Haushal-
tungsschule und auf Saison im
Gastgewerbe.“ 1963 heiratete
sie ihren Peter (vor acht Jahren
verstorben). Die beiden wurden
Eltern von vier Kindern.
Martina Holzer
eingesetzt waren, trafen sich im
Laufe der Zeit manchmal heim-
lich, um sich Freud und Leid zu
erzählen. Von solch einem Tref-
fen am Sonntagnachmittag kam
unsere Marie am Abend nicht
mehr heim zum Füttern. Das
gab es sonst nie. Unsere Eltern
machten sich große Sorgen.
Montagfrüh machte sich unser
Vater auf den Weg, um nachzu-
forschen. Auf dem Gestapo-
posten sei es während der Nacht
schrecklich zugegangen, wurde
ihm erzählt. Verzweifelte
Schreie, Peitschenschläge, Hilfe-
rufe, lautes Weinen, Jammern
und Stöhnen waren die ganze
Nacht durch zu hören.“ Auf die-
sem Posten regierte damals der
allgemein gefürchtete Gestapo-
Chef König – ein Tyrann.
„Vater holte die
Mädchen“
„Unser Vater ging zu ihm und
bat, Maria und Dania mitneh-
men zu dürfen. Sie würden sehr
dringend auf den Höfen ge-
braucht.“ Er bekam die Erlaub-
nis. „Ich sehe die Beiden noch
heute, weinend und schluchzend
in unserer Küche sitzen, den
Kopf auf dem Tisch, das Ge-
sicht in ihren Armen versteckt.
Ihr ganzer Körper bewegte sich
wie vom Schüttelfrost gebeutelt.
Kein Wort waren die beiden
Mädchen in der Lage zu sagen.
Auf einmal riss Marie ihr Kopf-
tuch herunter und weinte wieder
laut auf. Wir sahen, dass man ihr
und auch Dania die Haare kurz
abgeschnitten und sie schreck-
lich zugerichtet hatte.“
Später konnten die Mädchen
erzählen, was sie in der vergan-
genen Nacht mitgemacht hatten.
„Gestapo-Männer haben die
versammelten Ostarbeiter –
etwa zehn bis zwölf Leute –
aufgefunden und auf den Posten
(Ortszentrum, Haus nach Metz-
gerei Ortner, 1. Stock, Richtung
Lienz) gebracht. Dort wurden
sie zuerst verhört, bedroht, be-
schimpft und angespuckt. Dann
mussten sie sich nackt auszie-
hen und wurden mit Lederrie-
men und Peitschen immer wie-
Der Asthof Leiter vor dem Brand (das Bild entstand um 1900 und
zeigt rechts Großvater Peter Herrnegger und seinen Bruder
Nikolaus) und danach (siehe unten).
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