Juli 2017
‘s Blatt‘l
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So wie viele seiner Kollegen mus-
ste auch Niedertscheider in den
Kriegsdienst einrücken. Mit 19 Jah-
ren war sein erster Einsatzort Stral-
sund, im Norden Deutschlands, an
der Ostsee bei der Flak. Nach vier
Jahren Militärdienst wurde er durch
einen Granatsplitter schwer verwun-
det und landete im Militärspital. Nach
einem recht gutem Heilungsprozess
rettete ihm damals ein Militärarzt das
Leben, indem er die fast verheilte
Wunde verstümmelte und ihn zur Ge-
nesung nach Hause schickte.
Dies war auch der Anlass im
Herbst 1944, nach so viel gese-
henem und miterlebtem Leid, die
laut seiner Meinung nur noch kurze
Dauer des Krieges nicht mehr mitzu-
machen und den Kriegsdienst zu ver-
weigern. Einem Freund, dem gleich-
altrigen Gassererben Anton Waldner
vertraute er sein Vorhaben an und
wollte ihn bei seinem letzten Kriegs-
urlaub auch dazu bewegen, die rest-
liche Kriegszeit zu desertieren. Doch
dieser war von seiner Vaterlands-
pflicht überzeugt, rückte wieder ein
und fiel am 27. April 1945 (12 Tage
vor Kriegsende) in Südmähren dem
Wahnsinn zum Opfer.
Zu jener Zeit zählte Desertati-
on wohl längst nicht mehr zum Va-
terlandsverrat. Um zu Hause und
auch in der Bevölkerung ja keinen
Verdacht zu schöpfen (man wusste
ja nie wo ein „Feind“ seine Ohren
spitzte) verabschiedete sich Nieder-
tscheider von seinen Eltern, als rü-
cke er wieder in den Kriegsdienst
ein. Über Umwege ging er in Rich-
tung Michelbachtal, richtete sich am
sogenannten Pötsch am kleinen Ge-
wänd, hoch über St. Johann i. W., ein
Versteck ein, konnte aber alles beo-
bachten, was im Tale geschah. Den
ganzen Winter 1944/45 verbrachte
er dort. Wie er sich mit Nahrungsmit-
tel versorgte, um zu überleben, wird
wohl ein Geheimnis bleiben. Vermu-
tungen, dass ein Einheimischer ihn
versorgte, welcher schon ein Jahr
zuvor die aufgeflogenen Deserteure
am Kraß-Graben unterstützte, blie-
ben Gerüchte und gingen mit den
Beteiligten mit ins Grab.
Mitte Mai 1945 beobachtete Alois
von seinem Versteck aus, dass
die Engländer mit ihren Fahrzeu-
gen Richtung Matrei fuhren und so
wusste er, dass der Krieg sein Ende
genommen hatte.
Zu Hause angekommen, war es
Gewissheit, dass der Krieg aus ist. In
den nächsten Tagen machte er sich
auf nach Lienz, um seine Rückkehr
zu melden und ordentliche Papiere zu
erhalten. Doch die Engländer nahmen
ihn fest, verfrachteten ihn am Bahnhof
auf einen Zug und dieser Gefange-
nentransport sollte nach Sizilien ab-
geschoben werden mit einer höchst
ungewissen Zukunft. Weit in Italien,
südlich von Udine blieb der Trans-
port im freien Gelände stehen, um die
Gefangenen für ihre Notdurft unter
strenger Aufsicht austreten zu lassen.
Niedertscheider entfernte sich mit
langsamen Schritten Richtung Wald
in Gedanken versunken, jederzeit
einem Schuss zum Opfer zu fallen.
Doch sein Bewacher dachte sich viel-
leicht, lassen wir ihn gehen, er kommt
doch nicht weit; sein zweiter Lebens-
retter. Im Gestrüpp versteckt schaute
er zu, wie der Zug Richtung Süden
verschwand. Nun hieß es sich ein-
mal zu orientieren und mit nüchternen
Gedanken einen Plan auszuarbeiten,
wie man am besten Richtung Heimat
gelangen würde. Bei seiner Fahrt mit
dem Zug hatte er genau beobachtet,
wo es hinging, das half ihm jetzt natür-
lich sehr. Die Route lautete Richtung
Plöckenpass, doch da war der Hoch-
wasser führende Fluss Tagliamente
als Nichtschwimmer zu überqueren.
Die Brücken waren ja alle streng be-
wacht und zum Teil gesprengt. Er ver-
suchte einfach an einer breiten Stel-
le ans andere Ufer zu gelangen, auf
einmal versank er in den Fluten, ver-
lor alles Denken, wurde abgetrieben
und fand sich später am Ufer liegend,
aber unverletzt wieder. Wiederum war
ein „Lebensretter“ anwesend. Der
Marsch ging weiter, hauptsächlich
nachts, so kam er nach drei Tagen
zum Plöckenpass, dessen Übergang
schwer bewacht wurde. Auch dieser
Übergang gelang, durch das Sonnen-
licht, das die Posten blendete, tastete
er sich vorsichtig hoch über dem Tor
vorbei und war der Heimat wieder ein
Stück näher. Nun ging es nach Mau-
then und ins Lesachtal, dort auf einer
Alm wollte er etwas zu essen bitten,
doch die Sennerin schöpfte Verdacht,
tröstete ihn etwas hinaus, um Ver-
pflegung zu besorgen und er sollte
sich nur etwas ausruhen. Doch statt
Brotzeit wurde Verstärkung und ört-
liche Polizei informiert. Der Verdacht
schöpfende „Flüchtling“ war aber
längst Richtung Hochstadel über den
Bergkamm und landete im Drautal bei
Maria Pirkach, wo die Gnadenmutter
seine erste Ansprechperson war. Von
dort aus waren keine Steine mehr in
seinen beschwerlichen Weg gelegt.
Alois Niedertscheider kehrte nach
6 nie mehr vergessenen Tagen nach
Hause zurück, meldete sich beim
Ortsvorsteher und bekam auch an-
standslos seine Papiere und ein neu-
er Lebensabschnitt begann.
Als Kanonier der schweren Flak
verschlug es ihn nach Stralsund an
der Ostsee.
Chronik
Alois Niedertscheider: ein bewegtes Leben ging mit 97 Jahren zu Ende
Kriegserlebnisse:
Diese Erlebnisse erzählte Nie-
dertscheider dem Schreiber dieser
Zeilen, Leopold Gantschnig, per-
sönlich und laut eigenen Aussagen
wurde er 1943 bei Todesstrafe ge-
zwungenermaßen in die SS einge-
gliedert. Dies führte auch zur Ver-
haftung und Deportierung durch die
Engländer nach dem Krieg in Lienz
.