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‘s Blatt‘l
Dezember 2015
Chronik
„Da machen wir nicht mehr mit...“ - Erinnerungen eines Deserteurs
Ich habe auf dem Transport schon
zwölf Kilo abgenommen. Wir waren
so geschwächt, dass wir bei unserer
Trennung im Emsland nicht ein Ab-
schiedswort über die Lippen gebracht
haben. Ich werde dem Lager I Bör-
germoor zugeteilt und Alois kommt in
das Lager II Aschendorfermoor. Die
Haftbedingungen waren berüchtigt,
der Lagerkomplex wurde „die Hölle
imMoor“ genannt. Neben der äußerst
harten, täglich bis zu zwölf Stunden
langen Arbeit beim Torfstechen war
die Situation der Häftlinge vor allem
von Hunger, der willkürlichen Bruta-
lität und den grausamen Schikanen
des Wachpersonals geprägt.
Ich erzähle euch den ersten Tag
im Lager, so wie ich es mitgemacht
habe. Wir sind angekommen und
haben gleich einmal eine eiskalte
Dusche bekommen, das war ein
Schock. Dann beim Barackenein-
gang hat der Barackenälteste, das
war ein Sträfling, bereits mit einem
Brett gewartet und da hat man mit
dem Brett eines aufs Kreuz bekom-
men. Mit einer weiteren „Spezialität“
des Lagers machen wir gleich da-
nach Bekanntschaft. Der Bettenbau
ist den Aufsehern beliebter Anlass
für willkürliche Demütigungen der
Gefangenen. Man musste Betten
machen, der Strohsack musste eine
scharfe Kante haben, wie ein Diwan.
Das hat keiner geschafft. Da habe ich
mir gedacht, dir werde ich es zeigen.
Sobald der Aufseher weg war habe
ich aus dem Bett zwei Bretter heraus
getan unter dem Strohsack und die
Bretter auf der Seite aufgestellt und
dann mit Stroh überdeckt und die
Decke drübergezogen. Der Bara-
ckenälteste hat es nicht kapiert. Er
fragte: „Wem gehört das Bett? – Ge-
nau so müssen alle sein!“ Ich habe
dann meine Ruhe gehabt, soweit.
Sobald er verschwunden ist, habe
ich die Bretter wieder heraus getan.
Da habe ich sie schon einmal über-
trickst. Ich erhielt in der Folge die
Aufsicht über den Bettenbau. Dabei
konnte ich vielen anderen Häftlingen
helfen. Ich habe vielen geholfen, das
freut mich. Da waren viele dabei, die
haben keine Decke zusammenlegen
können, geschweige denn ein Bett
machen. Ich habe immer gesagt:
„Geh nur, das mache schon ich.“
Unterernährung und harte Arbeit
zehrten die Körper der Gefangenen
aus, viele starben dann an Krank-
heiten, mangelhafter sanitärer Be-
treuung und Misshandlungen. In der
Nacht haben sie plötzlich einen he-
rausgerissen. Man hat nicht gewusst
warum, keiner hat gewusst warum.
Das waren auch Sträflinge, die sind
so trainiert worden, die haben sich
müssen auf diese Art bewähren, da-
mit sie nachher wieder rauskommen,
das waren die Schlimmsten. Sie ha-
ben den Häftling herausgeholt. Einer
hat ihn am Kopf zwischen die Füße
geklemmt und die anderen haben ihn
mit ledernen Riemen auf den Hin-
tern geschlagen. Der hat sich nicht
rühren können und hat geweint. Ich
habe nur Grausen empfunden, das
war in der ersten Nacht. Man hat nur
daran gedacht, dass man auch ein-
mal drankommen kann. Sie haben
ihm den Hintern total zerschlagen,
alles ist angeschwollen und er konn-
te nicht mehr auf den Abort gehen.
Er hat ein paar Tage gelitten, dann ist
er gestorben. Und das war mehr oder
weniger Tagesordnung. Glaubhaft ist
das nicht, aber es war so.
Das Sterben war in den Emslandla-
gern eine alltägliche Erfahrung. Straf-
lager, das war schon ein bisschen zu
gut ausgedrückt. Praktisch gesagt
war es ein Vernichtungslager.
Ich überlebte die Torturen ebenso
wie mein Bruder Alois. Viel Glück,
eine ursprünglich gute körperliche
Verfassung und eine gewisse Härte
haben uns überleben lassen.
Im November 1944 werden wir
mit ungefähr 30 anderen Häftlingen
aussortiert und in das Wehrmachts-
gefängnis Torgau-Fort Zinna in
Ostdeutschland transportiert. Dort
werden wir einer militärischen Aus-
bildung unterzogen. Wenn ich an
Fort Zinna denke, denke ich sofort
an Hunger. Wir waren so verhungert,
wir haben nichts zu essen bekom-
men. Schließlich werden wir dem Be-
währungsbataillon 500 zugeteilt. Auf
dem Weg an die Front gibt es eine
Zwischenstation in Olmütz. Dort wer-
den wir Zeugen bei Exekutionen von
Deserteuren.
Wir haben zuschauen müssen,
als abschreckendes Beispiel. Der
Deserteur ist an einer Säule ange-
bunden worden und vor ihm ist das
Schusskommando gestanden. Er hat
genau gewusst, jetzt knallt es, aber
vorher hat er den Hitler noch einmal
zur Sau gemacht.
Danach war man schon einmal
psychisch ruiniert. Wenn einer ein
Gefühl hat, ist es einfach so. Ich
habe immer mit dem Mitleid mehr zu
kämpfen gehabt, als mit mir selber.
Das Bewährungsbataillon, dem
wir zugeteilt wurden, kämpfte an der
Ostfront gegen die Rote Armee. Im
Verhältnis zum Lager ist man dort
noch ein Mensch gewesen. Man war
zwar in einem Himmelfahrtskom-
mando, aber Mensch warst du noch.
Im Lager warst du kein Mensch.
Meine Haltung im Lager kann ich mit
dem Wort Gleichgültigkeit beschrei-
ben. Man ist schon ein bisschen
gleichgültig gewesen. Gegen einen
selber auch. Das hat es gebraucht.
Wenn ich so im Lager war und Neu-
linge gekommen sind, dann habe ich
sie angeschaut und eingeschätzt,
das wird einer aus der Stadt sein,
das könnte ein Bauer sein. Ich habe
schon ein Gefühl gehabt, der wird es
nicht lange ertragen. Ich habe mir
immer so ein Urteil gemacht. See-
lisch, moralisch und körperlich, da
hat alles zusammengehangen, dass
es der Mensch einfach nicht ausge-
halten hat.
Im Bewährungsbataillon mussten
Soldaten kämpfen, die von Kriegs-
gerichten verurteilt worden waren.
Soldaten, die nicht im Gleichschritt
marschiert sind. Sie wurden vor
allem für Ausbrüche eingekesselter
Einheiten eingesetzt. Da ist es nur
mehr ums Überleben gegangen.
Da waren gute Männer dabei. Da
hat man sich wieder als Mensch
gefühlt, an den Kameraden ist man
gehangen, auf sie war man ange-
wiesen.
Bewährungsbataillon
„praktisch ein Vernichtungslager“
„Die Hölle im Moor“
Der Tagesablauf im Lager