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REPORTAGE

PUSTERTALER VOLLTREFFER

APRIL/MAI 2018

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Ich bin froh, dass ich jetzt

weiß, dass ich jetzt einen

Namen für meine Gefühle, mein

Verhalten, kurzum auch für

meine Reaktionen habe“, er-

zählt Nadja, die als Selbststän-

dige imVersicherungsbereich in

Klagenfurt arbeitet. Sie ist top

im Job, kann dafür schier un-

glaubliche Energien entwickeln,

aber nur, weil sie „sich frei be-

wegen kann und in keinem Büro

verharren muss“, meint sie.

„Sonst würde es schon bald zu

einer Entlassung kommen“, ist

sie sich sicher. Immerhin pro-

bierte Nadja in jungen Jahren

fixe Anstellungen aus. „Aber ich

hatte nach kürzester Zeit Pro-

bleme mit meinen Vorgesetzten,

sodass der Rausschmiss stets

vorprogrammiert war.“ Sie

konnte sich nur schwer unter-

ordnen, hatte immer ihren eige-

nen Willen, sagte Dinge einfach

so heraus und ohne böse Ab-

sicht dahinter, die man als An-

gestellte aber keinesfalls sagen

sollte. Sie konnte häufig nicht

das ausführen, was der Chef

wollte, sondern war oft äußerst

unkonzentriert.

Keine Reaktion

„Und wenn mich der Vorge-

setzte ansprach, wenn ich ge-

rade mit anderem beschäftigt

war, reagierte ich überhaupt

nicht. Ich hörte ihn einfach

nicht. Das machte ihn äußerst

zornig, und er glaubte, dass ich

das absichtlich machen würde.

Aber so war es nicht. Ich fühlte

mich dann immer so hilflos,

weil ich ihm ja eigentlich alles

recht machen wollte.“ Und oft

wurde sie gescholten. Nadja

kann sich noch gut an ihren

letzten Rausschmiss erinnern,

bevor sie den Schritt in die

Selbstständigkeit tat. „Ich ar-

beitete in einer Handelsfirma in

Niederösterreich. Mit meinen

Kollegen in meinem Büro kam

ich überhaupt nicht zurecht.

Die Drei waren ein Team, und

sie machten sich oft lustig über

mich. Ich war immer der

Außenseiter und wusste einfach

nicht warum. Nach zweieinhalb

Monaten holte mich der Chef

zu sich und meinte: ‚Schade,

ich dachte sie wären die Rich-

tige für unseren Betrieb, aber

jetzt haben wir die Zeit für Sie

umsonst aufgewendet‘.“

Essstörung

Nadja verließ danach zutiefst

betroffen das Firmengelände,

denn sie musste sofort gehen.

Man wollte sie keine Sekunde

länger im Unternehmen haben.

„Später erfuhr ich, wie die

Kollegen über meinen Raus-

schmiss spotteten. Ich konnte

mir nicht erklären, warum mich

die Leute dort so wenig moch-

ten. Ich bemühte mich ja immer

so, mich gut mit ihnen zu ver-

stehen.“

Nadja war zu dieser Zeit auch

schwer essgestört, konnte dies

aber gut verbergen. „Aber ich

war oft auch abgelenkt mit den

Gedanken, wie ich zu immer

neuem Essen kommen und es

dann wieder ‚loswerden‘, sprich

erbrechen könne.“ Das Essen

holte sie von ihrer ständigen Un-

ruhe und Getriebenheit ein

wenig runter. „Wenn ich aß,

hatte ich ruhige Momente und

konnte alle Sorgen, seelische

Schmerzen, Misserfolge einfach

so wegdrücken.“ Nur musste sie

auch während ihrer Arbeit essen

und brechen. „Und das den ge-

samten Tag. Kurzum, ich fraß

immer irgendetwas in mich hin-

ein, um es dann wieder auf dem

Klo zu entsorgen. Ich musste

dann gleich wieder eine Kleinig-

keit essen, damit ich nicht

schwere

Kreislaufprobleme

bekam. Und dann ging die Fres-

serei wieder von vorne los.“

Impulse nur schwer

steuerbar

Die Essstörung hatte Nadja

als Jugendliche entwickelt. „Ich

wollte einfach Kilos loswerden

und weiterhin ungehemmt essen

können“, erklärt sie den „Start-

schuss“ in die Bulimie. Vor

allem hatte das Essen schon da-

mals eine beruhigende Wirkung

auf sie. „Ich war bereits als

Kind und Jugendliche immer so

aufgedreht, dann wieder total

schüchtern, wobei ich meine

Impulse oft nur schwer steuern

konnte und manchmal auch

Dinge dadurch kaputt wurden,

so etwa bei Schulveranstaltun-

gen eine Fensterscheibe oder ein

Tisch. Kaputt wurde jedenfalls

immer etwas, wenn ich unkon-

trolliert und ungewollt Bewe-

gungen ausführte. Meine Mit-

schüler fanden, dass bei mir

immer etwas ‚los‘ sei, es nicht

langweilig werde.“ Das war für

sie fast so etwas wie ein Kom-

pliment.

Viel Temperament

Wenn Nadja alte Bilder von

sich anschaut, erkennt sie

heute, dass sie immer viel

„Temperament“ zeigt. „Irgend-

wie scheint es, als ob ich immer

unwillentlich aus der Reihe

tanzte. So bin ich auf einem

Erstkommunionbild etwa die

Einzige, die nicht ruhig steht,

sondern gerade in Bewegung

zu sein scheint.“

Ihr Verhalten versuchte Nadja

im früheren Erwachsenenalter

immer mehr zu verbergen.

Dazu zählte aber nicht nur ihre

Getriebenheit und die oft man-

gelnde Impulskontrolle, son-

dern auch die große Zerstreut-

heit und teils enormen Schwie-

rigkeiten, privaten (nicht

beruflichen!) Gesprächen zu

folgen. Sie leidet unter extre-

mer Ungeduld und ist unfähig

sich auf weniger interessante

Dinge oder Themen zu konzen-

trieren. Dies spürt sie vor

allem, wenn sie wieder für

einige Zeit in Fortbildung ist.

Nadja leidet als Erwachsene an ADHS. Neben vielen Symptomen, die ihr das Leben sehr erschwe-

ren, kann sie in ihrem Job auch unglaubliche Energien entwickeln.

„Ich bin erwachsen und le

Nadja K., aufgewachsen in Sillian-Umgebung, ist 46 Jahre alt und leidet an

Erwachsenen-ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).

Das Leiden wurde bei ihr vor zwei Jahren als solches erkannt, ist aber erst

seit Mitte der 1990er-Jahre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.