28 OBERLIENZerlesen
Brauchtum
Ratschen in Oberlienz
von Gottfried Stotter
In der Karwoche verstummen die
Glocken. Sie seien nach Rom ge-
f logen, sagt der Volksmund. Die
Ratschen vertreten an diesen
glockenlosen Tagen, von Grün-
donnerstag bis zum Karsamstag,
ihre Stelle.
Am Karfreitag um 4.30 Uhr in der
Früh weckte uns unsere Mutter.
Die Brüder Andreas zwölf Jahre,
Franz neun Jahre und ich acht
Jahre zogen uns warm an, schlürf-
ten schlaftrunken unseren süß
gezuckerten Kaffee, bestehend aus
Linde und Titze, dazu ein Brot
mit selbstgemachter Marmelade
und dann gings zum Kirchplatz
Oberlienz, der Gott sei Dank nur
etwa 200 Meter von unserer
Hofstelle Lamprecht entfernt war.
Die meisten Buben waren bereits
da. Wir waren eigentlich nie die
Ersten. Böse Zungen behaupten
sogar, wir waren bei den Letzten.
12 bis 15 Ratscherbuben gaben ihr
Bestes, als beim Schlag der
Kirchturmuhr um Punkt fünf Uhr
die Ratschen zum zweiten Mal
erklangen. Am Vorabend nach der
Gründonnerstagsmesse, um ca.
20.30 Uhr, ratschten wir das erste
Mal vor der Sakristei im Friedhof.
Nach dem dreimaligen Ratschen
am Kirchplatz war es plötzlich
nicht mehr so kalt, wir waren
aufgewärmt. Es ging in westlicher
Richtung bis nach Lesendorf zum
vlg. Kohler, danach durch das
Grittldorf bis zum Bachheigl und
entlang des Schleinitzbaches in
den Sauwinkel. Bis wir wieder am
Kirchplatz ankamen war es ca.
neun Uhr vormittags. Zu Mittag
ratschten wir drei Mal am Kirch-
platz. Am Abend beim Halb-
läuten um 18.30 Uhr und beim
Zusammenläuten um 19 Uhr,
nach der Messe wurde ebenfalls
drei Mal geratscht.
Der Karsamstag war immer ein
besonderer Tag. Um fünf Uhr
ratschen am Kirchplatz, danach
Richtung Westen bis zum vlg.
Tschelcher. Wir hatten Angst vor
den Hunden beim Tschelcher.
Was würden wir machen, wenn
sie uns angriffen? Nichts geschah.
Kein Hund zu sehen. Oberhalb
des Tschelcherhofes ca. 100 Me-
ter nördlich, war das sogenannte
„Eckenratschen“ angesagt. Zuerst
wurden die Ratschen nach ihrem
Klang überprüft. Wer den höchs-
ten Ton hatte, durfte ganz hinten
stehen. Natürlich waren wir Jun-
gen das. Dann wurde in einer
Reihe (nordöstliche Richtung
genau auf die Kirche zeigend)
Aufstellung hintereinander bezo-
gen. Diese Tradition wurde dem
Zusammenläuten der Glocken
nachempfunden. Nun fing der
Ministrant (Ministrantinnen gab
es noch keine) mit dem höchsten
Klang der Ratsche an und ca. alle
10 Sekunden fiel der Nächste in
das Konzert ein. Ich stand ganz
hinten, hatte keine Ratsche mit
Stiel, die getrieben wurde, son-
dern eine, die auf den Boden
gestellt und gekurbelt wird. Aus
dieser Aufstellung heraus sah
man die Wertigkeit der einzelnen
Ratscher und wer was zu sagen
hatte. Im Lauf der Jahre kam
auch ich weiter nach vorne bis zur
tiefsten Ratsche, als ich eine
wunderschöne alte Ratsche trei-
ben durfte.
© Gottlieb Stotter vom Schneeberger
Ratscher 1969 v.l.: Peter Lobenwein, Andreas Stotter, Karl-Peter Schnee-
berger, Gerhard Schneeberger und Georg Hassler.