Virgen
Aktiv
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I
Virgen im Ersten Weltkrieg
Zur Erinnerung: Diese Aufzeichnungen
in der Volksschulchronik verfasste
Schwester M. Kassiana Letzner. Sie sind
hier ohne Kommentare und Korrektu-
ren, aber mit ein paar Kürzungen wieder-
gegeben. Von mir gemachte Ergänzun-
gen stehen zwischen eckigen Klammern
[ ... ]. Die beigefügten Abbildungen
stammen natürlich aus anderen Quellen.
Otfried Pawlin
1917
Das Ansuchen der Gemeinde Virgen um
Nachsicht in der Getreidestellung wurde
nicht berücksichtigt u. so mußte nach
und nach das Getreide gestellt werden,
was manchen Bauern große Opfer auf-
legte. Das Mehl, das dann zum Verkaufe
kam, war ziemlich teuer u. schwarz. Im
Februar u. Anfangs März war wieder
Stellung. Von den älteren Stellungs-
pflichtigen wurden einige für tauglich
befunden. Von den 17jähr. waren die
meisten tauglich u. mußten am 10.
März einrücken.
Da unsere Feinde das Friedensangebot
unseres u. des deutschen Kaisers schnöde
abwiesen, wurde vom 1. Febr. an der
Unterseebootkrieg mit der ganzen
Schärfe u. wohl auch mit vielem Erfolg
durchgeführt. Dieses stramme Vorgehen
brachte unsere Feinde in arge Verlegen-
heiten.
Im Dez. 1916 wurden der Schulleitung
von der Statthalterei „Abt. Kriegshilfs-
amt“ 4 Wehrschilde überschickt. Diese
Schilde sollten in jeder Klasse [von den
Kindern, die eine Spende brachten] be-
nagelt werden u. der Erlös davon an den
k.k. Landesschulrat „Kriegshilfsamt für
Witwen u. Waisen gefallener Tiroler
Krieger“ überschickt werden. Im Jänner
u. Febr. wurde die Benagelung vorge-
nommen u. trug das nette Sümmchen
von 90 K, sage neunzig Kronen, welches
Geld am 21. März der Post zur Weiter-
beförderung übergeben wurde.
In der Zeit vom 25. III. – 4. IV. kam
neuerdings eine Kornkommission. Dies-
mal wurde sämtliches Korn gewogen;
45 kg für den Kopf wurde jedem Haus-
halte überlassen, alles andere wurde teils
durch die hier angestellten Russen, teils
durch eigens für diesen Zweck hieher ge-
schicktes Militär im Hellerhaus zusam-
mengetragen. Sobald bessere Wegver-
hältnisse sind, wird es zum Tal hinaus-
geliefert. Das Militär war in der 1. Klasse
untergebracht, die Küche für dasselbe
war im Gemeinde-Armenhaus. Einiges
Korn wurde nach Windisch Matrei ge-
liefert u. dort gemahlen. Das Mehl kam
zurück u. wurde beim Krämer Martin
Bacher in Virgen gegen Vorlage eines
Mehlbüchleins an unbemittelte Perso-
nen gegen Bezahlung ausgewogen. Im
Juni wurde [das] Korn zum Tal hinaus-
geliefert. 22 Säcke Korn durften in Vir-
gen bleiben u. auch hier gemahlen wer-
den für Leute, die kein Korn ernteten
od. doch zu wenig haben. Leider reichte
der Vorrat nicht immer u. mußte man-
che Familienmutter mit dem leeren
Sacke heimgehen.
Am 6. Juni war in Lienz wieder Stellung.
Von den 18 Stellungspflichtigen war
einer (Bartlmä Mariacher, Lazacher) als
tauglich befunden. Man sah diesen
Mann ungern scheiden, da er ein tüch-
tiger Zimmermann u. Mühlenbauer war.
Am 20. Juni wurden durch Soldaten die
Glocken abgenommen, um dann am 23.
zum Tal hinausgeliefert zu werden. Die
große Glocke in der Pfarrkirche, die sich
durch ihren feierlichen Klang auszeich-
net, wollten die Leute nicht fortlassen.
Der Gemeinde-Vorsteher – Thomas
Lang – suchte bei der Militärbehörde
um die Belassung dieser Glocke an. Als
aber verneinende Antwort kam, reiste er
persönlich zum Hochwst. [Hochwür-
digsten] Fürstbischof – Franziskus Egger
– nach Brixen. Leider konnte nichts
mehr erreicht werden, da hier bereits ein
Protokoll aufgenommen war. Und so
wurde diese schöne Glocke am 26. vom
Turm herabgeworfen – wobei sie leider
zerbrach – um am 27. nach Lienz u. von
dort nach Innsbruck zu wandern, um
Virgen im Ersten Weltkrieg
Wehrschild der 1. Klassemit „benagelter“ Vorderseite (und Vergrößerung). Auf der Rückseite sind die von den Kindern gebrachten Spenden
festgehalten.
Original im Archiv der Gemeindechronik