einzige, hoffnungslose Finster-
nis. Das größte Glück war der
Schlaf“, erfuhr Sila aus dem Ta-
gebuch. Ila begann das Leben
allmählich so zu sehen, wie es
ihr Vater in den Bildern zeigte:
„Ohne Freude, ohne Trost – fins-
ter. Um jede kleinste Kleinigkeit
muss man zehnmal auf die Ge-
meinde gehen und warten und
betteln; wie viele Unfreundlich-
keiten, Lieblosigkeiten müssen
wir einstecken von Leuten, die
früher vor uns gekrochen
wären“, schrieb Ila. 22. Dezem-
ber: „Die Wege und Straßen sind
fast ungangbar vor Eis, sie sind
hart gefroren und voller Buckel,
so dass sich zahllose Leute
schon Arme und Beine gebro-
chen haben. Hier ist zudem alles
zugeknöpft, argwöhnisch, wort-
karg, unfreundlich. Wie selten
trifft einen ein warmer Blick, ein
herzliches Wort!“
„Post war die einzige
Freude“
Sonntag, 24. Dezember: „In
aller Frühe war heute schon
wieder Alarm; was für ein Er-
wachen am 24. Dezember! Was
wird heute in einem Jahr sein?
Wer würde sich jetzt getrauen
zu sagen: nächste Weihnacht ist
Friede. Vorige Weihnachten
haben wir es gesagt, und was für
ein furchtbares Jahr ist es ge-
worden! Durch die großen An-
griffe auf Villach und Spittal ist
jede Postverbindung unterbro-
chen. Post war buchstäblich die
einzige Freude, die wir hier hat-
ten. Heut Nacht konnten wir uns
trotz Wärmeflaschen lange nicht
erwärmen. Die Milch, die wir
zwischen den Fenstern stehen
haben, ist jeden Morgen stein-
hart gefroren.“
Tag ohne Alarm war
Segen
Montag, 1. Jänner: „Das
Gute an Sylvester war, dass wir
keinen Alarm hatten. Ein
Glück, dass wir voll zu schät-
zen gelernt hatten. Bis Mitter-
nacht saßen wir mit Mama auf,
und es gelang uns, wunder-
schöne Glocken aus Beron-
münster zu hören.“ Das Radio
Beronmünster war laut Heraus-
geber Sila ein öffentlich-recht-
liches Schweizer Radiopro-
gramm und während des Krie-
ges eine wichtige unabhängige
Informationsquelle. Das Hören
des Programms war unter Straf-
androhung ebenso verboten
wie das Hören des britischen
Senders BBC. Nachdem die
Mutter schlafen gegangen war,
blieben die Schwestern bei
einer Flasche Wein zusammen,
und es begann sich eben wieder
eine der endlosen, reichen,
durch Wein und Stunde ange-
regten Diskussionen zu entfal-
ten, „die jetzt das einzig Schöne
in unserem Leben sind. Wenn
wir schwiegen, lauschten wir
dem Gedröhne des Sturms“,
berichtete die Egger-Tochter.
Spaziergänge ohne
Entspannung
Der Jänner wurde wieder um
einiges kälter. Ila wanderte den-
noch immer gerne nach Ober-
lienz. Am 17. Jänner ging es
dorthin zum Rodeln. „Sehr
schöne Sonne, aber doch so kalt,
dass ich mich noch viele Stun-
den nachher nicht mehr erwär-
men konnte. Der Spaziergang
wurde mir eigentlich durch die
schrecklichen Detonationen ver-
leidet, die aus Süden über den
Spitzkofel herauftönten. Sicher
wieder in Südtirol, meinem son-
nigen, gesegneten Land!“ Ziel
war wiederum die Brenner-Ei-
senbahnlinie, in erster Linie traf
es an diesem Tag Auer. Samstag,
20. Jänner: „Heute ging es bei
uns wieder einmal ganz wüst am
Himmel zu; von allen Richtun-
gen her krochen die Flieger
heran, anzusehen waren sie wie
Kometen mit ihren langen Kon-
densstreifen. Manche stürzten
sich direkt herab, fast senkrecht,
so dass man schon seine Seele
Gott empfahl. Aber nichts wurde
abgeworfen. In Kals, einem
ganz kleinen Dorf nahe dem
Großglockner, fielen acht Bom-
ben, vermutlich Notabwürfe“,
notierte Ila in ihrem Tagebuch.
Dieser Abwurf forderte den Tod
von drei Schulkindern, die nicht
mehr rechtzeitig fliehen konn-
ten.
Mittwoch, 24. Jänner: „Das
neue Gesetz vom Fällen aller
Alleen im ganzen Reich ent-
setzt und beunruhigt die Stadt.“
In der Verordnung über die
Durchführung der Holzaufbrin-
gung, die am 1. Dezember
1944 laut Sila in Kraft trat,
wurde das Fällen von Bäumen
im Stadtgebiet freigegeben.
„Hier befolgen sie es radikal,
wir haben kaum mehr einen
Baum in den Strassen“, kom-
mentierte Ila verzweifelt.
„Die ganze Stadt
rannte zum Begräbnis“
Mittwoch, 31. Jänner: „Der
Stationsvorsteher von Dölsach ist
gestern von Tieffliegern getroffen
worden und tot. Ein Panzerzug
mit sehr viel S.S. soll im Lienzer
Bahnhof gestanden sein, darum
wohl der so nahe Besuch.“ Ila er-
zählt auch vom ersten richtigen
Angriff (6. Feber): „Es war Mit-
tag. Der Angriff war klein, wie es
der Größe des Ortes entspricht,
aber es ist doch sehr traurig, die
verwüsteten Häuser auch hier
sehen zu müssen.“ Acht Todes-
opfer waren zu beklagen, die am
8. Feber zu Grabe getragen wur-
den. „Natürlich rannte die ganze
Stadt zum Begräbnis. Es ist
selbstverständlich, dass daraus
eine öffentliche Kundgebung ge-
macht werden musste, aber ich
sah Leute sich daran beteiligen,
die sonst kein gutes Haar an den
Nazis lassen. Verächtlich ist das,
typisch für die Charakterlosigkeit
des Volkes.“
Große Müdigkeit
„Heute, im sechsten Jahr die-
ser Lebensform, erkennen wir
vielleicht gar nicht mehr ihre
Schrecklichkeit. Wir selbst sind
wohl seelisch, moralisch, in un-
serer Urteilskraft so herunterge-
kommen wie die Verhältnisse“,
schrieb Ila am 8. Feber. Die Tage
waren jetzt schwer zu ertragen.
„Um halb neun Uhr fängt der
Alarm an, dann laufen wir zum
Iselhof hinüber, weil wir im
Haus keinen Keller haben. Dort
sind wir bis halb vier, vier am
Nachmittag. Mit eisigen Füßen
und blauen Lippen stehen wir in
der Nässe herum, dann wieder in
den eisigen Keller, dann kracht
irgendwo eine Bombe hinein.
Einer Menge Leute geht es so
wie uns, an unserem Haus zie-
hen immer ganze Scharen vor-
bei, hinauf zum Schloss, wo ein
Stollen ist; diese Armen kehren
auch erst jeden Nachmittag von
dort zurück. Aber wer dieses
Leben nicht mitmacht, kennt
nicht seine entnervende Wir-
kung, vor allem nicht die furcht-
bare Müdigkeit, die sich auf
Seele und Körper legt.“
Bahnhof zertrümmert
Donnerstag, 1. März: „In den
letzten drei Tagen hatten wir täg-
CHRONIK
PUSTERTALER VOLLTREFFER
FEBER/MÄRZ 2017
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1945: Ila Egger-Lienz nahe ihrer ersten Unterkunft in Osttirol, in
der Lienzer Schlossgasse.
Fotos: Turmmuseum Ötz
Ila Egger wurde als Kind gerne
von ihrem Vater gemalt.