SCHICKSAL
PUSTERTALER VOLLTREFFER
MÄRZ/APRIL 2016
26
„Das ist einfach nicht normal.
So viele geliebte Menschen –
aus den unterschiedlichsten
Gründen – kann man eigentlich
gar nicht verlieren. Dies alles
muss einen tieferen Sinn
haben“, vermutet die heute 47-
Lisbeth H. aus dem
Pustertal „ist fast kein
Mensch“ im Leben ge-
blieben, wie sie selbst
sagt. So viele Finger, wie
ihr bereits geliebte Men-
schen „weggestorben“
sind, hat sie gar nicht.
Doch sie fand ihren
ganz persönlichen Weg,
mit den Härten des
Lebens umzugehen.
Lisbeth
H. aus
dem
Ober-
land
verlor
trotz
großer
Verluste
letzt-
endlich
nicht
ihren
Lebens-
mut.
stücke, die teilweise noch nach
ihm riechen“, so Lisbeth, die
mittlerweile akzeptiert, dass sie
aus ihr nicht bekannten Grün-
den aus der „Norm“ fällt, und
bisher laufend so viele Men-
schen verlor. „Ich werde das
Warum noch erfahren. Aber
nicht als Mensch auf dieser
Erde“, ist sie überzeugt.
Lieblingszimmer
Mit ihren Lieben im Jenseits
steht sie jedenfalls ständig in
Verbindung. „Ich spüre sie in
jedem Moment meines Lebens.“
Lisbeth hat auch ein Zimmer in
ihrer großen Altbauwohnung,
das sie „mein Lieblingszimmer“
nennt. In der Mitte steht ein ge-
mütliches Sofa, die Wände sind
in schönen Farbtönen gehalten,
große Fenster lassen viel Licht
jährige Frau, die nun alleine in
München lebt. Erst vor fünf
Monaten war sie wieder auf
einem Begräbnis. Ihr Mann
verstarb nach einer schweren
Krankheit. „Ich habe ihn bis zu
seinem Tode gepflegt. Er starb
in meinen Armen. Jetzt ist er
von seinem Leiden erlöst. Das
ist gut so.“ Lisbeth (Name von
der Redaktion geändert) sagt
diese Worte recht nüchtern.
Doch hinter dem nüchternen
Klang versteckt sich sehr wohl
Trauer. „Ja, mir fehlt er sehr.
Wir hatten ja erst vor einigen
Jahren geheiratet.“ Es war ihre
dritte Ehe. „Auch meine ersten
zwei Ehemänner sind verstor-
ben, bei einem Verkehrsunfall
und bei einem Freizeitunfall.“
Weitere Verluste
Ebenso sind ihre drei älteren
Geschwister bereits tot, auch
ihre Eltern, weitere etliche liebe
Verwandte und Freunde. Sie
„gingen“ innerhalb kurzer Zeit.
Auch ihr einziges Kind, das sie
nach drei Fehlgeburten gebar,
starb aufgrund an einer Auto-
immunkrankheit früh. „Ich
wusste schon bei seiner Geburt,
dass es nicht lange wird leben
können und habe die gemein-
same Zeit mit meinem Kind dann
versucht so schön wie möglich
zu gestalten. Und sie wurde auch
schön. Doch sein ,Gehen‘ zerriss
mir fast das Herz.“
Auch Lisbeth selbst wäre fast
bei einem Autounfall ums
Leben gekommen. „Das war
vor etlichen Jahren auf einer
deutschen Autobahn. Damals
fuhren mehrere Autos aufein-
ander. Und mittendrin ich al-
leine in meinem Fahrzeug. Viel
bekam ich aber nicht mit. Ich
verlor sofort das Bewusstsein
aber man konnte mich schwer
verletzt bergen. Zwei andere,
sehr junge Menschen, starben
bei dieser Karambolage.“
Sie tobte
Als Lisbeth nach zwei Wo-
chen aus dem Koma erwachte,
war sie aber nicht von Glück
darüber beseelt, überlebt zu
haben. „Ich empfand dies viel-
mehr als Strafe, auf dieser Erde
bleiben zu müssen. Ich war so
unglaublich aggressiv, wurde
furchtbar böse gegenüber den
Ärzten und dem Pflegeperso-
nal. Ich schrie herum, so gut ich
dies in meinem Zustand konnte,
beleidigte
Mitpatienten.
Kurzum: Ich tobte, weil sie
mein Leben gerettet hatten, das
ich aktuell so sehr hasste.“
Recherchiert man im Leben
von Lisbeth, war ihr Gefühls-
zustand keine Überraschung.
Denn erst zwei Wochen vor
dem Unfall war es erneut zu
einem Todesfall gekommen.
„Meine geliebte Schwester, die
immer wieder an einer schwe-
ren psychischen Störung litt,
hatte Selbstmord begangen. Ich
habe sie in ihrer Wohnung ge-
funden. Es war schrecklich! Ihr
Tod hat mich völlig aus der
Bahn geworden. Sie war für
mich ein so wichtiger Mensch.“
Sie wollte ihr „Gehen“
nicht akzeptieren
„Als ich vor ihrem offenen
Sarg stand, alleine in der Auf-
bahrungshalle, konnte ich nicht
anders, als nur auf ihre Leiche
einzuschreien. Ich hatte eine sol-
che Wut, dass sie mich einfach
,hinten‘ gelassen hatte. Die Be-
statter, die mein Toben hörten,
konnten mich dann beruhigen.“
Als dann der Unfall auf der
deutschen Autobahn passierte,
war Lisbeth gerade auf dem
Weg zur Wohnung ihrer Schwe-
ster, um sie auszuräumen. Mitt-
lerweile ist auch dies schon
lange getan. „Auch die Sachen
meines Mannes sind schon weg
– bis auf ein paar Erinnerungs-
herein, und rund um das Sofa
stehen kleine Tischchen, auf
denen jeweils ein großes einge-
rahmtes Porträtfoto eines ihrer
„Lieben im Jenseits“ steht. „Ich
weiß, das mutet sehr gruselig an.
Aber ich empfinde es überhaupt
nicht so, sondern es ist für mich
ein sehr guter Weg, mit den
vielen Todesfällen umzugehen.
Wann immer ich meine Lieben
brauche, gehe ich in dieses
Zimmer, setze mich aufs Sofa
und rede mit ihnen. Ich habe
das Gefühl, dass mir einer von
ihnen immer zuhört, mir hie und
da auch Ratschläge gibt, wenn
ich sie brauche. Fühle ich mich
ab und zu sehr einsam, dann
schlafe ich in diesem Zimmer.“
Aktiv im Leben
Wer glaubt, die 47-Jährige
habe sich von der Außenwelt
bereits verabschiedet, irrt. Sie
steht als Abteilungsleiterin in
einer großen Firmen mitten im
Leben, geht auf Partys, lacht
und tanzt gerne, ist bei Vereinen
aktiv und fährt auch mal heim
ins Oberland. „Ich habe auch
mittlerweile einen Freund. Er
hat großes Verständnis für ,mein
Lieblingszimmer‘, empfindet
dies sogar als sehr gute Idee.
Wir leben aber noch nicht zu-
sammen.“ Ihr Freund habe auch
schon einige Menschen in
seinem Leben verloren, aber
letztendlich – so wie Lisbeth –
ebenfalls nicht den Lebensmut
gänzlich eingebüßt „Ja, wir
passen in dieser Hinsicht
besonders gut zusammen und
können jetzt beide sagen: Vielen
Dank, dass wir auf dieser Erde
leben dürfen. Wir schätzen das
sehr.“
Martina Holzer
Bei einem Unfall auf der deutschen Autobahn verlor auch sie
fast ihr Leben.
Foto: Symbolbild
„Mir ist fast kein Mensch geblieben“