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Das Müsli, das sie nach einer Woche als
erste Mahlzeit bekam, war das Beste, was
sie jemals gegessen hat, erinnert sich Frau
Oberwalder noch heute.
Im November 1946 heiratete Anna den um
14 Jahre älteren Schneidermeister Josef
Oberwalder und zog nach Leisach. Josef er-
baute mit seinem Bruder Ander in mühevoller
Arbeit selbst das Haus, in dem Anna heute
noch wohnt. Die ersten Jahre im erst halb-
fertigen Haus waren mehr als beschwerlich.
Es gab am Anfang kein Fließwasser, das
Wasser musste noch drei Jahre lang vom
öffentlichen Brunnen geholt werden. In den
schattigen Wintermonaten war es in den
Zimmern so kalt, dass die Kinder in das
Glashaus im Garten gingen, um sich aufzu-
wärmen. Das Glashaus diente vor allem
dazu, Blumen für die Kirche heranzuziehen.
Für die Kirche und für das Dorfleben setzte
sich Josef Oberwalder immer ein und so
diente er oft als „Nothelfer“, auch wenn er
eigentlich keine Zeit hatte.
Als erstklassiger Schneidermeister war er
weit über die Bezirksgrenzen hinaus be-
kannt, und die Lienzer Honoratioren ließen
sich ihre Anzüge gern bei ihm anfertigen.
Bis zu zwölf Personen hatte er in seiner
Schneiderei angestellt.
Nach und nach stellten sich in der Familie sie-
ben Kinder ein und die Arbeit ging für Anna
Oberwalder nie aus. Ihr Mann hatte durch
seine fordernde Berufsarbeit und die vielen
ehrenamtlichen Tätigkeiten kaum Zeit für die
Familie, und so blieb fast alles an ihr hängen.
Die Kinder wohnen heute größtenteils aus-
wärts: Eine Tochter lebt in Deutschland, drei in
Innsbruck, der einzige Sohn in Kärnten. Toch-
ter Maria ist Generaloberin der Tertiarschwes-
tern des Hl. Franziskus mit Sitz in Rom und
muss in dieser Funktion die Ordensniederlas-
sungen in Afrika und Südamerika besuchen.
Sie ist die Weltreisende in der Familie. Annas
Tochter Elisabeth wohnt in Leisach. Sie hat im
ersten Stock des Hauses mit ihrem Mann eine
Wohnung ausgebaut und kann von dort aus
ihre Mutter unterstützen, wenn es nötig ist.
Die Jahre sind nicht ganz spurlos an Frau
Oberwalder vorüber gegangen. Ihre Füße spie-
len oft nicht mehr ganz mit, so dass sie gern
die Hilfe eines Rollators in Anspruch nimmt.
Aber sie hört noch gut und vor allem ist sie
froh, dass ihre Augen nach zwei Hornhaut-
transplantationen noch so gut sind, dass sie
ihrer liebsten Beschäftigung, dem Lesen, nach-
gehen kann. Sie liest täglich zwei Zeitungen,
um sich auf dem Laufenden zu halten, und liebt
Bücher mit historischem Bezug, wie zum Bei-
spiel „Krieg und Frieden“. Auch einen reich
bebilderten Opernführer schmökert sie gern
immer wieder durch, wenn sie auch die großen
Aufführungen nur aus dem Fernsehen kennt.
Bewundernswert ist, dass Frau Oberwalder
ihren reichen Erinnerungsschatz so gut ver-
walten kann und zugleich an den Entwicklun-
gen der Gegenwart interessiert ist. Früher
hat sie immer gerne alle möglichen Kurse be-
sucht. Sie bedauert, dass ihr das heute nicht
mehr möglich ist, aber über Bücher, Zeitun-
gen, Radio und Fernsehen nimmt sie nach
wie vor gerne Neues auf.
Sie freut sich, wenn es in ihrem Garten schön
blüht, vor allem aber, wenn ihre Kinder, ihre
neun Enkel und acht Urenkel auf Besuch
kommen und die Ruhe ihres Alltags mit
munterem Leben füllen.
Mathilde Habernig
Staatlich befugter und beeidigter
Ingenieurkonsulent für Vermessungswesen
A. Purtscher-Straße 16 – 9900 Lienz
04852 62117 –
vermessung@rohracher.comWENNS
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