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Leisacher

Gucklöcher

Frau Anna Oberwalder:

Geschichte hautnah erlebt

Es ist eine unglaublich spannende Welt, in

die man eintaucht, wenn man mit Frau Anna

Oberwalder ins Gespräch kommt. Die

liebenswürdige alte Dame feiert bald ihren

95. Geburtstag und kann mit beeindrucken-

den persönlichen Erinnerungen an eine Zeit

aufwarten, die die meisten von uns nur aus

Büchern oder Filmen kennen.

Ihre Kindheit verbrachte sie in einer großen

Familie mit acht Geschwistern in Huben. Den

Besuch der Handelsschule brach die ausge-

zeichnete Schülerin ab, weil ihr eine Arbeits-

stelle im Lebensmittelgeschäft Hibler-Mair in

Lienz angeboten wurde. Bald darauf wechselte

sie aber ins Fernamt, die Telefonzentrale der

Post. Dieser Arbeitsplatz war ihre Erfüllung,

und sie blieb dort als „Telefonfräulein“ während

der Kriegsjahre bis zu ihrer Heirat im Novem-

ber 1946. In Lienz gab es damals knapp 100

Telefonanschlüsse, und alle Gespräche wurden

über die Telefonzentrale verbunden. Als gegen

Kriegsende Bomben einen großen Teil der

Lienzer Innenstadt zerstörten und damit auch

die Telefonleitungen unterbrochen waren,

kamen viele Lienzer ins Amt, um dort die für sie

bestimmten Nachrichten entgegenzunehmen.

Einige Male konnte Frau Oberwalder auch

heimlich Warnungen weitergeben, wenn

etwa religiöse Veranstaltungen wie eine

Sühne-Wallfahrt nach Thurn gewaltsam

aufgelöst werden sollten oder Geistlichen

eine Hausdurchsuchung bevorstand. Bei der

Gestapo gab es eine offene Feindseligkeit

gegen die Religion, besonders gegen

Priester, die bei der Jugend großen Anklang

fanden. Diese erhielten wegen fadenscheini-

ger Anschuldigungen entweder einen

Gauverweis oder wurden gleich verhaftet.

Unvergesslich bleibt für Frau Oberwalder

auch der Anruf, der im Mai 1945 die An-

kunft von 37.000 Kosaken in Osttirol ankün-

digte. Es kamen dann „nur“ 28.000, aber

das Heer dieser armen Vertriebenen mit

ihren Pferden war in den Feldern vor und um

Lienz und auch in ihrem Heimatort Huben

nicht zu übersehen. Auf den kleinen Kosa-

kenpferden konnte man auch als junges

Mädchen gut reiten, weil sie so leicht zu be-

steigen waren. Die Pferde wurden dann alle-

samt beschlagnahmt und geschlachtet, was

nicht nur bei den Kosaken, sondern auch bei

mitfühlenden Einheimischen Tränen auslöste.

Wochenlang gab es daraufhin Pferdefleisch

zu essen – mit bitterem Beigeschmack.

Von der eigentlichen Tragödie in der Peg-

getz, bei der über 3.000 Kosaken einen

grausamen Tod fanden, bekam Frau Ober-

walder damals nichts mit, aber als die

Zusammenhänge nach und nach ans Licht

kamen, beschäftigte sie das noch lange.

Die Verhaftung und den Abtransport einer

jüdischen Familie erlebte sie als Augenzeu-

gin mit. Eine Reihe von Gestapomännern

stellte sich drohend vor ihr auf, so dass ihr

die Tragweite dieser Aktion erst so richtig

bewusst wurde.

Als im Mai 1945 die alliierten Truppen Nazi-

Deutschland endgültig besiegten, übernahmen

zuerst die Amerikaner, dann die Engländer

alle wichtigen Positionen in Lienz, so auch das

Post- und Telegraphenamt. Das führte natürlich

zu Verständigungsproblemen, aber Frau Ober-

walder erinnert sich, dass ihr viele amerikani-

sche Ausdrücke sehr ähnlich vorkamen wie

die alten Mundartausdrücke, die sie von ihrer

Mutter aus Bichl bei Matrei kannte.

Alles in allem waren die Jahre, die Anna als

Telefonistin verbrachte, eine schöne Zeit. Die

Arbeit fiel ihr leicht, sie konnte sich bei zahl-

reichen Kursen stets weiterbilden und fand

viel Anerkennung.

Kurz nach Kriegsende erkrankte Anna an

Typhus, der damals im Krankenhaus mit

einer strikten Fastenkur behandelt wurde.