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hat es mit sich gebracht, daß sich bis dahin
am mittelalterlich geprägten Lienzer
Stadthaus keine wirklich tiefgreifenden
Veränderungen vollzogen haben.
Fotografische Ansichten aus der Zeit um
1900 vermitteln einen wertvollen Einblick
auf die Gestalt des historischen Lienzer
Stadthauses: Es handelt sich um Mittel-
oder Seitenflurhäuser im geschlossenen
Häuserverband, traufseitiger Stellung zur
Straße und flachem Pfettendach. Die teils
enorme Baukörperlänge dominiert über
die zwei- bis dreigeschoßige Gebäude-
höhe und bewirkt den typisch lagernden
Charakter. Waagrecht verlaufende Gesim-
se, Putzbänder und feingezeichnete Rusti-
fizierung im Erdgeschoßbereich steigern
das Langgestreckte. Plastischer Fassaden-
schmuck wie Erker, Pilaster, barocke Fen-
stergiebel und Gesimse fehlten im ur-
sprünglichen Fassadenrepertoire, was
darauf zurückzuführen ist, daß die aufein-
anderfolgenden kunsthistorischen Stil-
richtungen aufgrund mangelnden Reich-
tums und der zerstörerischen Stadtbrände
an Lienz spurlos vorbeigegangen sind. Das
Wandrelief blieb eher flach, bis um 1900
an mehreren Hausfronten Fassaden-
schmuck im Stil der Neo-Renaissance und
des Neo-Klassizismus angebracht wurde.
Die starke Farbigkeit geht zurück auf eine
Aktion des Verschönerungsvereins in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
sollte die Fremdenverkehrsattraktivität
der Stadt steigern. Bei der charakteristi-
schen Schlichtheit vieler Lienzer Haus-
fronten waren Fenster und Portale ent-
scheidende Schlüsselelemente der Fassa-
dengestalt: Fenster- und Türläden und die
beim Kastenfenster nach außen aufschla-
genden Fensterflügel mit Sprossen er-
zeugten in ihrem Wechselspiel von offen
und geschlossen ein lebhaftes Fassaden-
relief und gaben den Platz- und Gassen-
wänden ein reizvolles Aussehen.
Eine Vorstellung vom baulichen Cha-
rakter dieses alten Lienz gibt noch das En-
semble am Ende der Schweizergasse. Die
Konfrontation mit den alten Stadtansichten
macht die gestaltverändernden Eingriffe
der Wiederaufbauphase und mehr noch
der kontinuierlichen Modernisierungs-
maßnahmen bis in die Gegenwart augen-
fällig (Abb. 1, Abb. 2). Die ausschließlich
zweckbezogene Auflösung der Erdge-
schoßfassaden in reine Schaufensterfron-
ten produziert den Verlust der rundbogi-
gen Portale und der gewachsenen Ausge-
wogenheit zwischen Wand und Öffnung.
Dem Erdgeschoß wird der Sockelcharakter
und die Wirkung einer „optischen Abstüt-
zung“ genommen. Die Entfernung der
Fensterläden, der Austausch der kleinteilig
gegliederten Kastenfenster gegen unge-
gliederte Normfenster, das Wegrationali-
sieren des plastischen Fassadenschmucks
aus der Jahrhundertwende und die Aus-
glättung der Eck- und Sockelrustifizierung
nahm vielen Lienzer Stadthäusern ihr
größtes ästhetisches Kapital. Ihres maß-
geblichen Schmuckes beraubt, verödeten
viele Hausfronten zu leblosen Wänden mit
Löchern. Systematische Wiederbespros-
sungsaktionen bei Fenstersanierungen in
den vergangenen Jahren zeigen wohl einen
Ansatz zur Wiedergutmachung, jedoch ha-
ben die häufig eingesetzen flachen Klebe-
und Metallsprossen zu wenig Körper, um
die plastische Qualität von echten Holz-
sprossengliederungen zu erreichen. Maß-
stabsbrüche durch ein Zuviel an Bauhöhe
bzw. Baumasse finden sich unübersehbar
bei den Ämtergebäuden, der Genossen-
schaftsmühle und dem Stadtsaalkomplex.
Maßstabsbrüchen aufgrund zu derber
Gliederungsformen begegnet man im
ganzen Stadtgebiet, unter anderem in der
Rosengasse oder der Messinggasse, wo
Neueinfügungen der 60er/70er Jahre mit
grobproportionierten Erkern und Fen-
steröffnungen sowie derb stereotypen
Fensterfaschen sich unangenehm vor-
drängen. Der Wunsch nach zeitgemäß
ausgestatteten und auf aktuelle Nut-
zungsbedürfnisse ausgerichtete Bauten
ist berechtigt und diesbezügliche Moder-
nisierungsmaßnahmen sind sogar notwen-
dig für das Weiterleben einer Stadt. Weder
absolute Konservierung des bauhistori-
schen Originals noch fanatisches Neubau-
gegnertum sind heute die erklärten Ziele
einer sinnvoll geführten Altstadterhaltung.
Seit der Mensch baut, baut er um und baut
er an; alles Gebaute ist einem Prozeß
unablässigen Veränderns ausgesetzt. Es
sind nicht die Veränderungen an sich, die
in Lienz einen Bruch der örtlichen Bau-
tradition bewirken und gestalterische Un-
stimmigkeiten auslösen, sondern ein
Mangel an Einfühlung und Anpassung bei
der Eingliederung neuer Architekturele-
mente in die alte bauliche Umgebung.
Eine störungsfreie Integration von
großdimensionierten Schaufensterflächen
ist zum Beispiel beim einfühlsam sanierten
Zimmermannhaus (Messinggasse 1)
durch vorgesetzte Laubengänge gelungen.
Diese schaffen darüberhinaus an dieser
mittelalterlichen Straßenengstelle einen
Schutzbereich für die Fußgänger gegen-
über dem Fahrverkehr. Während jahr-
zehntelang praktizierte formale „Kahl-
schläge“ historische Bauwerke in nichts-
sagende monotone Klötze verwandelt
haben (vgl. Angerburg/Bildungshaus),
besteht heute vermehrt die Tendenz,
durch ein „Zuviel an Gestaltung“ in ein
optisches Chaos zu steuern.
Der gegenwärtige Zustand von Bezie-
hungslosigkeit zwischen Geschäftsfronten
und historischer Fassade ergab sich zum
einem durch radikale Ausschlachtung der
Erdgeschoße bei Geschäftseinbauten und
zum anderen durch schleichendes Anhäufen
von beliebigen Bauaccessoires rund um die
Geschäftsfassaden. Es sind vielfach Details,
die den notwendigen Bezug zum Ganzen
vermissen und das Charakteristische am
historischen Bau unterdrücken und über-
fluten: sterile Wandverkleidungen, wuch-
tige Geschäftsladenvordächer und massive
Beschilderung, darunter oft mehrfach sich
wiederholende Firmen- und Werbeauf-
schriften und nicht zuletzt die Klebe-
pickerlmanie und folkloristischer Norm-
kitsch bei der Geschäftsfrontgestaltung.
Der Weg aus dem optischen Chaos führt
an einer umfangreichen Entrümpelung
nicht vorbei. Angesichts der bereits tief-
greifenden baulichen Umwälzungen in
manchen Altstadtbereichen stellt sich zu-
nehmend weniger die Frage nach Erhal-
tung denn nach Wiederherstellung der
Ortsidentität. Ein diesbezügliches Wollen
kann aber nicht existieren, solange ein
Verlust weder wahrgenommen noch be-
dauert wird. Eine Reparatur des histori-
schen Charakters der Lienzer Altstadt
hängt sehr vom baukulturellen Verant-
wortungsbewußtsein der jeweiligen Bau-
herren ab und gelingt wohl nur durch eine
übergreifende gestalterische Neuord-
nung, welche nicht von „Hausdekorateu-
ren“ sondern von kompetenten Architek-
ten mitgetragen wird. Willkürliche indi-
viduelle Ausdrucksbedürfnisse müssen
zurücktreten und die ortstypischen Bau-
merkmale als maßstabsbildende Grund-
lage bei Erneuerungen herangezogen
werden. Nur sie bieten eine beständige
Sicherheit im gegenwärtigen Pluralismus
von architektonischen Moden und schaf-
fen eine verbindende ortsbezogene Struk-
tur. Mit Ortsbezug sind nicht senti-
mentale, oberflächliche Regionalismen
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
65. Jahrgang –– Nummer 3
Abb. 3: Hauptschule Zentrum: Der neoklassizistische Altbau aus den Jahren 1903/04
erweitert um den Zubau von 1994/95 nach den Plänen von Architekt Werner Eck.
Foto: A. Kollnig-Klaunzer