CHRONIK
PUSTERTALER VOLLTREFFER
SEPTEMBER/OKTOBER 2015
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troffenen geleistet werden.
„Keine funktionierende Psy-
chiatrie kommt ohne Zwangs-
maßnahmen aus, schwer Er-
krankte müssen oft genug vor
sich selbst geschützt werden.“
Von Telefonberatung
bis Notfallseelsorge
Stärken des Netzwerks, das
in zehn Jahren „Europäische
Allianz gegen Depression in
Südtirol“ besonders intensiv
aufgebaut wurde, sind Telefon-
beratungsstellen, Selbsthilfe-
gruppen, gut informierte Seel-
sorger, Lehrer und Ordnungs-
kräfte, Notfallseelsorge, Not-
fallpsychologie und bestens
ausgebildete Hausärzte.
„Aber auch wissenschaftlich
versuchten wir uns dem Thema
2008 stieg Rate wieder an
Die Zahl der Suizidopfer
sank deutlich: Auf dem Höhe-
punkt des Projekts „Europäi-
sche Allianz gegen Depression“
im Jahr 2007 beklagte Südtirol
nur mehr 38 Opfer – endlich
war die magische Grenze von
40 Toten pro Jahr unterschrit-
ten. Aber sie stieg 2008 erneut,
als das Projekt zu Ende ging.
Das weist alle Beteiligten dar-
auf hin, dass die Bemühungen
weiter gehen müssen. „Auch
wäre es kurzsichtig, nur be-
stimmte Fachleute mit der Vor-
beugung von Suiziden zu be-
trauen. In diesem Fall gilt be-
sonders: Allein ist man schwach,
und gemeinsam stark. Vor allem
aber können wir von den Erfah-
rungen des Auslands lernen.“
Österreich ringt mit einer deut-
lich höheren Suizidrate als Süd-
tirol, und Deutschlands Rate
entspricht in etwa jener Südti-
rols. Die Schweiz wendet viel
Energie auf, um den Zugang zu
potentiell tödlichen Hilfsmitteln
zu erschweren. Alle drei Staaten
haben viel Energie und For-
schung in die Suizidvorbeugung
investiert, mit zum Teil sehr
guten Ergebnissen. „Wir sollten
das unbedingt auch weiter tun.
Seit 2010 besteht in diesem
Sinn ein freiwilliges ,Netzwerk
zur Krisenverhütung ohne jede
finanzielle Unterstützung, also
pures Volontariat, als Teil der
Europäischen Allianz gegen
Depression. Manche Anliegen
sind wohl zu teuer, um sie gut
zu verwirklichen, aber auch zu
wichtig, um sie brachliegen zu
lassen.“
„Jeder Suizid ist einer zuviel“,
erklärt Dr. Roger Pycha, Pri-
mar der Psychiatrie, Kranken-
haus Bruneck.
„Von internationalen Studien
her weiß man, dass die Häufig-
keit der Suizidversuche min-
destens acht bis zehn Mal so
hoch ist. Das sind ein bis zwei
Suizidversuche täglich in unse-
rem Land“, bedauert Primar
Dr. Roger Pycha.
Südtirols Suizidrate (Suizide
pro Jahr auf 100.000 Einwoh-
ner) ist über die Jahrzehnte
doppelt so hoch wie jene Ita-
liens, und deutlich höher als
jene der Nachbarprovinz Tren-
tino. „Sie erreichte 1990 einen
traurigen Höchststand, als sich
im Vinschgau mehrere junge
Männer auf die gleiche Weise
das Leben nahmen. Die Presse
reagierte damals noch mit einem
entsetzten Aufschrei, der, wie
wir heute wissen, grundsätzlich
gefährlich ist. Berichterstat-
tung über das Phänomen soll
erfolgen, damit es nicht tot ge-
schwiegen wird. Aber spekta-
kuläre Schilderungen einzelner
Fälle führen zur Nachahmung:
Umso mehr, je bekannter das
Opfer ist, je größer die Auf-
machung der Berichte ist und je
genauer die Sterbensumstände
beschrieben werden.“
Verboten
Dazu gibt es ein halbes Dut-
zend weltweit anerkannter Stu-
dien, die die Medien in die
Pflicht nehmen. Wenn über
Suizid berichtet wird, sollen
nüchterne, allgemeine Aussa-
gen und Schilderungen der
Hilfsangebote von Experten er-
folgen. „Große Spekulationen
über Einzelfälle mit Fotos und
reißerischen Titeln sind wissen-
schaftlich verboten – auch wenn
einige Journalisten und Heraus-
geber dagegen wettern, weil sie
das Recht auf freie Meinungs-
äußerung verletzt sehen.“
Nach 1990 wurde eine Unter-
suchungskommission in Süd-
tirol eingesetzt, die Presse und
Rundfunk empfahl, nicht mehr
über Suizide zu berichten. Ge-
rade die deutschsprachige
Presse hielt sich strikt an die
Empfehlung, bis 1995 der Sui-
zid von Alexander Langer die-
ses Schweigen brach. Das
Opfer war zu prominent, die
Gerüchteküche überbordend,
und in der Folge wurde die
Empfehlung nur mehr teil-
weise beachtet.
Netz an Hilfsangeboten
„Dass die Suizidrate seitdem
trotzdem weiter gesunken ist, ist
auch unseren gemeinsamen An-
strengungen auf verschiedenen
Ebenen zu verdanken. Ein gan-
zes Netzwerk an Hilfsangeboten
ist entstanden, allen voran psy-
chiatrische Bereitschaftsdienste
rund um die Uhr und psychi-
atrische Abteilungen an den vier
Krankenhäusern von Bozen,
Meran, Brixen und Bruneck.“
Dort finden stark Gefährdete in
jedem Augenblick Schutz und
Hilfe. Manchmal muss Hilfe
auch gegen den Willen der Be-
zu nähern. Zehn Jahre lang hat
die ,Südtiroler Arbeitsgruppe für
Suizidprävention‘ Daten gesam-
melt, 2010 wurde sie leider auf-
gelöst. Die Psychiatrien Südtirols
kontaktierten die Hausärzte und
Angehörigen von mehr als 400
Suizidopfern und erhoben wert-
volle Hintergründe.“ Fast 50%
der Opfer litten an Depressionen,
mehr als 25% waren alkohol-
krank. Im Verhältnis zur Bevöl-
kerung nahmen sich mehr Ladi-
ner und Deutschsprachige als Ita-
liener das Leben. „Es ist, als
könnte man vom italienischspra-
chigen Teil Südtirols lernen, wie
Krisen ohne Bedrohung des eige-
nen Lebens gemeistert werden.
Eine Brunecker Befragung zur
Lage der Hinterbliebenen machte
deutlich, dass diese sich ausge-
grenzt und abgestempelt fühlten,
und nicht selten selbst in lebens-
gefährliche Krisen gerieten.“
Deutlich mehr Suizide in Südtirol
als im übrigen Italien
52 Südtiroler starben
im Jahr 2012 durch
Suizid, 2013 waren
es 47. „Auf jede Woche
fällt bei uns ca. ein
Suizid, und jeder dieser
Toten ist einer zu viel“,
hält Dr. Roger Pycha,
Primar der Psychiatrie,
Krankenhaus Bruneck,
fest.