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OSTTIROLER
NUMMER 11/2014
3
HEIMATBLÄTTER
bahre und später auf einem Wagen wurde
Velten in das Lienzer Spital überführt.
In der nächsten Ausgabe der Wochen-
zeitung „Pusterthaler Bote“ vom 8. Sep-
tember 1876 konnte die Öffentlichkeit de-
tailliert über das tatsächlich eingetretene
Unglück informiert werden. Eigenartig,
dass bloß vom „Fremden“ die Rede ist und
nie sein Name genannt wird:
7
„Lienz, am 5. September. Jener Fremde,
von welchem in der letzten Nummer dieses
Blattes berichtet wurde, daß er eine Exkur-
sion auf die Kerschbaumer Alpe unternom-
men habe ohne bisher zurückgekehrt zu
sein, ist thatsächlich verunglückt, da er am
Samstag den 2. ds. von einem Gemsenjäger
hoch oben in den Wänden des Spitzkofels in
einer Felsschlucht todt aufgefunden wurde.
Gedachter Fremde war ein Forstadjunkt
aus Wien, ein geborner Badenser, ca. 30
Jahre alt und ein eifriger Botaniker. Als er
sich am 26. Aug. früh vom Hotel Post hier
entfernte, ließ er seine gesammten Effekten
zurück und nahm nichts mit als Bergstock,
Karte und Botanisirbüchse. Den Weg zur
Kerschbaumer Alpe wollte er ohne Führer
machen und hat sich dabei, obwohl ihm ein
Hirtenknabe den richtigen Weg zeigte, ver-
gangen, indem er rechts von der Alpe die
Höhen des Spitzkofels erstieg. Gerade da-
mals war jene ungünstige Witterung einge-
treten und alle Höhen mit frischem Schnee
bedeckt, es ist daher anzunehmen, daß er
an jenem Samstag Abends an einer steilen
Stelle ausglitschte und dann in jene
Schlucht, wo man ihn auffand, abstürzte
und dort, vielleicht noch am Leben, da an
seinem Körper keine schwere Verletzung
bemerkbar war, dem Froste und Mangel an
Nahrung zum Opfer fiel. Um 4 Uhr Nach-
mittags hatte er seine letzte Notiz in seinem
Taschenbuche, jedoch nur Botanik betref-
fend, gemacht, von da an fehlen alle wei-
tern Daten. Hut, Bergstock und Botanisir-
büchse wurden ober ihm am Felsen aufge-
funden, alle andern Gegenstände, welche er
bei sich trug, waren unverletzt. Am Sonntag
den 3. ds. begab sich eine Commission in‘s
Gebirge in die Nähe des Platzes wo der
Verunglückte lag. Dieser wurde von einigen
Jägern mittelst Stricken aus der Schlucht
mit großer Anstrengung heraufgeschafft
und dann nach Lienz transportirt, wo ges-
tern Nachmittag das sehr feierliche Lei-
chenbegängniß stattfand, bei dem sich die
Herrn Beamten, Mitglieder der Gemeinde-
Vertretung und viele Fremde betheilten.“
Die wenigen Nachrichten, zu entnehmen
einem Nachruf und v. a. dem zitierten Zei-
tungsbericht, lassen breiten Raum für Ver-
mutungen und Spekulationen zu. Walter
Mair, erfolgreicher Alpinist und Alpin-
schriftsteller, einer der besten Kenner
der Lienzer Dolomiten, interpretiert die
wenigen überlieferten Fakten in folgender
Weise:
8
„Der im betroffenen Gebiet unkundige
Wilhelm Velten hat die Wegerklärung eines
Hirtenjungen im Bereich der‚ Wolfsbuche‘,
heute nicht mehr bekannt, auf jeden Fall im
unteren Teil der Kerschbaumeralm liegend,
wohl missverstanden. So kam er vom Weg
weit ab und stieg in die Arlingriese auf, in
jenes weite, lang in den Sommer hinein
schneebedeckte Felskar, das mit einem
schmalen, felsgesäumten Schuttarm hinauf
in eine Einkerbung führt, die – vom Tal aus
gesehen – links, östlich des Spitzkofels,
endet. Hier dürfte Dr. Velten südseitig in
das obere Hallebachtal abgestiegen sein,
um von dort aus den Gipfel zu besteigen. Es
ist nicht nachzuweisen, ob Velten ihn auch
wirklich erreicht hat oder ob bereits beim
Aufstieg das Unglück passierte. Wenn bei
der vermutlichen Absturzstelle von einer
Bretterwand die Rede ist, dann wohl des-
halb, weil die Spitzkofeltürme in alter Zeit
als ‚Amlacher Bretter‘ bezeichnet wurden
und der Spitzkofel selbst als ‚Bretterspitz‘
bzw. ‚Bretterkofel‘.
Laut vorliegenden Berichten fand man
den Verunglückten in den hohen Wänden
des Spitzkofels, möglicherweise dort, wo
die Spitzkofelscharte zwischen der heuti-
gen Linderhütte und dem Gipfel noch
einen steilen Anstieg zum höchsten Punkt
verlangt. Ob in diesem Bereich die Be-
zeichnung ‚Bretterwand‘ oder an anderer
Stelle gemeint war, ist aus den Berichten
nicht eruierbar.“
An der Grabstätte wurde später eine
Marmortafel mit folgender Inschrift ange-
bracht:
„Hier ruhet / Dr. Wilhelm Velten / Pflan-
zenphysiologe. / verunglückt am 26. Aug.
1876 / auf dem Wege / zur Kirschbaumer
Alpe / geb. zu Karlsruhe im Grossh(erzog-
tum) / Baden / 28. Sept. 1848.“
Unter der Grabplatte von Dr. Wilhelm
Velten ist eine Marmortafel zur Erinnerung
an Mr. H. Velten, geboren 1857, gestorben
1930 in London, angebracht. Die anzu-
nehmende verwandtschaftliche Beziehung
der beiden Velten zueinander konnte noch
nicht geklärt werden.
Ein in der „Österreichischen Botani-
schen Zeitung“ (4. September 1876, Nr.
10) publizierter Brief Anton Sauters infor-
mierte die Fachkollegenschaft über den
tragischen Tod des jungen aufstrebenden
Wissenschaftlers Wilhelm Velten.
Alfred Burgerstein, Professor für Anato-
mie und Physiologie der Pflanzen an der
Universität Wien, schreibt in seinem Nach-
ruf
: „Mit grossem Scharfsinn und seltener
Beobachtungsgabe verband
[Velten]
mit
unermüdlichem Fleiss, wovon die zahl-
reichen Untersuchungen und Beobachtun-
gen, welche er in der verhältnissmässig
kurzen Zeit seiner Thätigkeit an der Wiener
forstlichen Versuchsleitung durchgeführt
hat, und deren Resultate in verschiedenen
wissenschaftlichen Journalen niedergelegt
sind, einen deutlichen Beweis angeben.“
Das Herbar von Wilhelm Velten wurde
imApril 1877 als Geschenk an die Zoolo-
gisch-Botanische Gesellschaft in Wien
übergeben. Von dort wurde es an das Na-
turhistorische Museum Wien abgegeben
und gelangte 1966 mit 567 Herbarfaszi-
keln mit Belegen diverser österreichischer
Sammler als Geschenk an die Universität
Aarhus in Dänemark. Recherchen am „In-
stitute of Biological Sciences – Depart-
ment of Systematic Botany, Herbarium“
waren wegen der erst partiell erfolgten Re-
trokatalogisierung der Herbarbelege vor-
erst nicht erfolgreich.
Publikationen von Wilhelm Velten:
Velten W. (1871): Beobachtungen über die Paarung von
Schwärmsporen. – Bot. Ztg., Halle, 23:383-388.
Velten W. (1872): Ueber die Verbreitung der Protoplas-
mabewegung im Pflanzenreich. – Bot. Ztg., Halle, 30: 645-
653.
Velten W. (1873): Bewegung und Bau des Protoplasmas.
– Flora, 6:81-89, 7:97-102, 8:113-128.
Velten W. (1873): Vitis vinifera L. u. Ampelopsis hede-
racea Michaux. Eine morphologische Studie. – Annalen der
Oenologie, 3:149-165, Tafel VIII, IX.
Velten W. (1875): Ueber den Maisbrand. – Mittheilun-
gen des vorarlbergischen Landwirthschafts=Vereines an
seine Mitglieder, 83:1330-1333.
Velten W. (1875): Über die Entwicklung des Cambium
und N. J. C. Müllers Ideen über diesen Gegenstand. – Bot.
Ztg. Halle, 50:809-814.
Velten W. (1876): Ueber die wahre Pflanzenelektricität.
– Bot. Ztg., Halle, 19:289-298.
Velten W. (1876): Aktiv oder Passiv? – Oesterr. Bot.
Zeitschrift, 3:77-88.
Velten W. (1876): Die Einwirkung der Temperatur auf
die Protoplasmabewegung. – Flora, 12:177-182 (Tafel VIII
und IX), 13:193-199, 14:209-217.
Velten W. (1876): Einwirkung strömender Elektricität
auf die Bewegung des Protoplasma, auf den lebendigen und
todten Zellinhalt, sowie auf materielle Theilchen überhaupt.
II. Theil. Einfluss des galvanischen Stromes auf den todten
Zelleninhalt. – Sitzungsb. K. Akademie der Wissensch.
mathematisch-naturwissenschaftliche Classe, 73: 293-358
(1 Tafel).
Velten W. (1876): Einwirkung strömender Elektricität
auf die Bewegung des Protoplasma, auf den lebendigen und
Der Untere Stadtplatz in Lienz, um 1880; im Hintergrund, rechts, Hotel „Post“, in dem
Dr. Wilhelm Velten Ende August 1876 abgestiegen ist.
Unkekannter Fotograf
(Fotoarchiv Meinrad Pizzinini)