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Verteidigungslinie an den Flüssen Dunajec
und Biala gehalten werden. Der Großteil
Galiziens war verloren, die Front um ca.
200 km nach Westen verschoben. Das
allein wäre nicht so schlimm gewesen. Die
wahre Katastrophe waren die immensen
Verluste an Menschen und Material, die
nach Ansicht der Militärhistoriker das spä-
tere Ende der k. u. k. Streitkräfte jetzt schon
besiegelten.
Mit etwas mehr als 800.000 Soldaten war
Österreich-Ungarn in Galizien angetreten,
davon war die Hälfte im ersten Kriegsmo-
nat verloren gegangen: ca. 300.000 waren
tot oder schwer verwundet, etwa 100.000
von den Russen gefangen genommen. Von
den materiellen Verlusten, vor allem an Ge-
schützen, gar nicht zu sprechen. Wie stand
es um die Tiroler? Die Regimenter der Kai-
serjäger und der Landesschützen hatten
rund zwei Drittel ihres Bestandes durch
Tod, Verwundung, Krankheit oder Gefan-
genschaft eingebüßt, was vom Landsturm-
regiment Nr. II übrig geblieben war, saß in
der Festung Przemysl fest und sollte – so-
viel sei vorweggenommen – im März 1915
in russische Gefangenschaft gehen, wo
ebenfalls jeder Fünfte starb. Das heißt ganz
konkret, dass von den ca. 45.000 Mitte Au-
gust ausgerückten oder wenige Wochen
später nachgeschickten Tirolern über
12.000 nicht mehr in ihre Heimat zurück-
kehrten, weitere 18.000 nur mehr als Krüp-
pel oder Jahre später abgezehrt und krank
aus sibirischer Gefangenschaft.
Schuld an diesen Einbußen, die man nie
mehr wettmachen würde können, war die
mangelhafte Einstellung der verantwort-
lichen Militärs auf den veränderten Cha-
rakter eines modernen Krieges. Das betrifft
vor allem die in dicht gestaffelten Reihen
vorgetragenen Sturmangriffe gegen gut
verschanzte Russen, die reichlich mit Ma-
schinengewehren und leichter Feldartille-
rie ausgestattet waren. Dass die Schlachten
der ersten eineinhalb Kriegsjahre ohne
Stahlhelme geschlagen wurden, erklärt die
große Zahl von schweren bis tödlichen
Kopfverletzungen. Dazu kam das vielfach
nicht nur unkluge und unvorsichtige, son-
dern geradezu verantwortungslose Vorge-
hen der Befehlshaber auf allen Ebenen, die
das Heil in der bedingungslosen Offensive
sahen und ihre Offiziere und Mannschaf-
ten ohne Rücksicht auf die zu erwartenden
Verluste ins mörderische Feuer trieben.
Um die enormen Verluste auszugleichen,
waren in ganz Tirol Musterungskommis-
sionen unterwegs, die immer weniger
strenge Kriterien für die Tauglichkeit an-
legten, auch wurden immer weniger
Gründe für eine Freistellung vom Militär-
dienst anerkannt. Von der Kriegsbegeiste-
rung der ersten Augusttage, als sich sogar
noch Freiwillige zum Militär drängten, war
längst nichts mehr übrig. Im November
stellt das Militärkommando Tirol eine
„der-
art pessimistische Stimmung“
fest, dass
„alle neueinrückenden Rekruten ganz kopf-
hängerisch in die Front kommen“.
Es
komme sogar vor, dass manche Männer
„durch Vorschützen nicht vorhandener Ge-
brechen“
untauglich erscheinen wollten!
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Der Septemberschock
Begonnen hat der Stimmungsum-
schwung bereits im September. Man erfuhr
in der Heimat zuerst wenig Konkretes über
die Geschehnisse an der Front. Die Presse-
zensur leistete ganze Arbeit. Die Meldun-
gen und Berichte waren geschönt bis un-
wahr, an den weißen Flecken der im letzten
Moment herausgenommenen Meldungen
erkannte der aufmerksame Leser, dass ihm
die ganze Wahrheit vorenthalten wurde.
Eine Gerüchteflut war die Folge. Schon am
10. September klagte das Innsbrucker Mi-
litärkommando über den negativen Einfluss
von
„heimkehrenden Militärpersonen“
,
hauptsächlich wohl Verwundete, die
„das
in ihrer nächsten Nähe Geschehene oder
die ihre eigene Person betreffenden Ereig-
nisse auf die allgemeine Lage übertra-
gen“
.
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Natürlich vermittelte auch die in
alle Orte des Landes einflatternde Feldpost
manche Information zum Ernst der Lage,
da mochten die Briefzensoren in den Kom-
OSTTIROLER
NUMMER 9-10/2014
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HEIMATBLÄTTER
Die Brüder Hubert und Paul Ingruber aus Schlaiten – beide tot. Paul war Schneidermeister
in St. Lorenzen im Pustertal und fiel bereits am 28. August 1914 bei Uhnów, Hubert kam
in den letzten Kriegswochen ums Leben.
(Chronik Schlaiten)
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn gefal-
len: Sterbebildchen für Thomas Groder
aus Kals.
(„Tiroler Ehrenbuch“,
Tiroler Landesarchiv, Innsbruck)
Sterbebildchen aus Schlaiten: Auch der
28-jährige Gasser-Bauer fiel schon im
Oktober 1914 in Galizien.
(Chronik Schlaiten)