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mandostellen noch so aufpassen. Und un-
missverständlich waren die immer länger
werdenden Listen der Gefallen und Ver-
wundeten, die in den Zeitungen veröffent-
licht wurden, waren die Züge mit Verwun-
deten, die auf die Spitäler und Reserve-
lazarette im ganzen Land verteilt wurden.
Am Dienstag, 15. September, trafen die
ersten verwundeten Soldaten zur Stationie-
rung in Lienz ein. Die Lienzer Zeitung
schreibt im üblichen Pathos:
„Nun sind sie
auch in unsere Grenzstadt gekommen, an
500 Mann, welche auf den blutigen
Schlachtgefilden bei Lemberg furchtlos
und unerschrocken den Soldaten des Blut-
zaren gegenüber traten.“
Und weiter:
„In
liebenswürdiger Weise hatten sich alle Lien-
zer, welche verfügbare Autos, Fuhrwerke,
Landauer etc. hatten, in den Dienst der
guten Sache gestellt, und so konnte der Ab-
transport unter Beiziehung der hier dislo-
zierten Sanitätsmannschaften und der freiw.
Rettungs-Abteilung in nicht ganz einer hal-
ben Stunde in das öffentliche Krankenhaus
und in das Reserve-Spital (Kaiser Franz
Josef-Kaserne) bewerkstelligt werden,
gewiß eine beachtenswerte Leistung. Die
Verwundeten sind fast durchwegs Rumänen
und Ungarn und tapfere Burschen, die ihre
Leiden mit Mut ertragen.“
26
In Analogie zum „Augusterlebnis“
spricht der Historiker Oswald Überegger
vom „Septemberschock“.
27
Von der
Kriegsbegeisterung der ersten Augustwo-
chen war nichts mehr zu spüren. Neben
den zunehmend länger werdenden Ver-
lustziffern, vagen Gerüchten und unsiche-
ren Nachrichten vom wenig erfreulichen
Kriegsverlauf war es die Konfrontation der
Daheimgebliebenen mit der Realität des
Krieges, die zum Stimmungsumschwung
führte. Wer sollte die Ernte einbringen, wo
doch die meisten Männer ihre Höfe ver-
lassen hatten müssen? Wer in den Werk-
stätten und Fabriken die unfertig liegen-
gebliebene Arbeit erledigen? Und wo soll-
ten die Arbeiter aus den Betrieben
unterkommen, die mit der katastrophalen
Situation nicht fertig wurden und zusper-
ren mussten? So entstand die paradoxe Si-
tuation, dass einerseits Arbeitskräfte fehl-
ten, andererseits die Zahl der Arbeitslosen
stieg. Erst allmählich brachten die anlau-
fenden Heeresaufträge eine gewisse Er-
leichterung, doch betraf dies nicht alle
Branchen. Der vor dem Krieg zu einer
Stütze der Tiroler Wirtschaft gewordene
Fremdenverkehr ließ praktisch ganz aus.
Als der Winter näher kam und immer noch
keine Aussicht auf das zu Kriegsbeginn be-
schworene
„Wiedersehen bis Weihnachten“
bestand, war in den amtlichen Stimmungs-
berichten der Bezirkshauptmannschaften
häufig von Kriegsmüdigkeit die Rede. Die
Bevölkerung stelle zunehmend die Frage,
war aus Brixen zu vernehmen,
„wann und
wie dieser Krieg endlich enden wird“
.
28
Von den Fronten kamen sehr unterschied-
liche Meldungen. Vor Krakau konnte An-
fang Dezember 1914 der Vormarsch der
Russen in der Schlacht bei Limanowa-La-
panow endlich gestoppt werden. Doch in
den Karpaten tobten weiter verlustreiche
Kämpfe. Dass dort die Winter besonders
hart sein konnten und die Russen dafür bes-
ser gerüstet waren, hatte sich in der Heimat
herumgesprochen. Also wurden für die Sol-
daten Strümpfe, Pulswärmer und feldtaug-
liche „Schneehauben“ gestrickt und Liebes-
pakete mit Lebensmitteln und Dingen ge-
schnürt, von denen man glaubte, dass man
sie in den winterlichen Unterständen an der
Karpatenfront brauchen würde. Die Zeit des
Sammelns und der humanitären Hilfsaktio-
nen war angebrochen, Unterstützung für die
Soldaten an der Front, aber auch und vor
allem für die immer zahlreicher werdenden
Witwen und Waisen zu Hause.
Den Herren Mag. Bernhard Mertelseder
(Tiroler Bildungsforum, Innsbruck),
Ludwig Pedarnig (Ortschronist Schlaiten)
und Mag. Roland Sila (Ferdinandeum-
Bibliothek) einen herzlichen Dank für die
Bereitstellung von Bildmaterial.
OSTTIROLER
NUMMER 9-10/2014
8
HEIMATBLÄTTER
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer: Dr. Mi-
chael Forcher, A-6020 Innsbruck, Beethoven-
straße 9; E-Mail: michael.forcher@chello.at
Manuskripte für die „Osttiroler Heimatblät-
ter“ sind einzusenden an die Redaktion des
„Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzinini,
A-6176 Völs, Albertistraße 2 a.
Verwundete Soldaten in der zum Reservespital umfunktionierten Kaiser Franz Josef-
Kaserne in Lienz.
(Fotoarchiv M. Pizzinini)
Anmerkungen:
Dieser Beitrag entstand parallel zu meiner Arbeit an dem
Buch „Tirol und der Erste Weltkrieg“. Viele Sätze und Pas-
sagen zum allgemeinen Kriegsverkauf sind aus diesem
Werk übernommen.
Überschneidungen gibt es auch mit dem Beitrag „Wohin soll
dieses Hinmorden der Massen führen? Wie die Tirolerinnen
und Tiroler den Krieg erlebten“, den ich für den Sammel-
band „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914-1918“,
herausgegeben im Haymon Verlag von Martin Kofler, ge-
schrieben habe und der Ende November 2014 erscheint.
1
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 52/53 v. 3.7.1914, S. 2, der
anschließend zitierte Leitartikel S.1.
2
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 59 vom 24.7.1914, S. 1.
3
Zitiert nach S
ENFTER
, Matthias / Ü
BEREGGER
, Oswald,
„Totaler Krieg“ in der Kleinstadt. Bruneck im Ersten
Weltkrieg, in: L
ECHNER
, Stefan (Hrsg.), Der lange Weg
in die Moderne, Innsbruck 2006, S. 83 f.
4
Zur Entfesselung des Krieges und die Haltung des Kai-
sers und seine Minister und Generäle sind am auf-
schlussreichster: R
AUCHENSTEINER
, Manfried, Der Erste
Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie
1914-1918, Wien 2013; D
ORNIG
, Wolfram: Des Kaisers
Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von
Hötzendorf. Mit einer Nachbetrachtung von M
ORITZ
,
Verena und L
EIDINGER
, Hannes, Innsbruck 2013.
5
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 60 vom 28.7.1914, S. 1 f.
6
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 61 vom 31.7.1914, S. 2.
7
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 62 vom 4.8.1914, S. 3.
8
Zitiert nach W
IEDEMAYR
, Ludwig: Weltkriegschauplatz
Osttirol. Die Gemeinden an der Karnischen Front im öst-
lichen Pustertal, Lienz 2007, S. 18.
9
Zitiert nach H
EISS
, Hans: Andere Fronten. Volksstim-
mung und Volkserfahrung in Tirol während des Ersten
Weltkrieges, in: E
ISTERER
, Klaus / S
TEINIGER
, Rolf, Tirol
und der Erste Weltkrieg (= Band 12 der Innsbrucker For-
schungen zur Zeitgeschichte), Innsbruck 1995, S. 139-
177, hier S. 142.
10
Zitat übernommen aus der Rede von Dr. Michael Huber
anlässlich der Eröffnung einer Weltkriegsausstellung im
Chronikarchiv von St. Veit i. D. am 3. August 2014.
11
Zitat und alle Informationen dazu aus der in Anm. 10 ge-
nannten Rede. Für die Vermittlung bin ich Frau Ottilie
Stemberger zu Dank verpflichtet.
12
Wie Anm. 10 und 11.
13
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 63 vom 7.8.1914, S. 6.
14
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 67 vom 21.8.1914, S. 3.
15
Zu den Anfängen des Standschützenkorps: P
FERSMANN
VON
E
ICHTAL
, Rudolf: Die Entstehung der Tiroler Lan-
desverteidigungslinie, in: Militärwissenschaftliche Mit-
teilungen 64, Seien 1933, passim.
16
J
OLY
, Wolfgang: Die k. k. Tiroler und Vorarlberger Stand-
schützen-Formationen im ErstenWeltkrieg, Organisation
und Einsatz (= Schlern-Schriften 303), Innsbruck 1998.
17
P
ICHLER
, Cletus: Die Osttiroler im Weltkriege, in: Ostti-
rol. Festschrift, herausgegeben anlässlich der Einweihung
des Bezirks-Kriegerdenkmals in Lienz, Lienz 1925.
18
Das als Unterlage für die Ansprache von Hand beschrie-
bene Doppelblatt befand sich im Nachlass von Hanne
Feldner, deren Erbe Frau Margarethe Mühlmann über-
nahm. Als deren Leihgabe befindet sich das Manuskript
heute im Traditionsraum der Haspingerkaserne in Lienz.
Für den Hinweis und die Überlassung, aber auch für wei-
tere Informationen zu den ersten Kriegswochen in Ost-
tirol bin ich dem Militärexperten und Historiker Vzlt a. D.
Gottfried Kalser zu Dank verpflichtet. – Wo und wann
genau diese Rede gehalten wurde, konnte bisher nicht
eruiert werden. Die lokalen Zeitungen erwähnen weder
die Rede noch eine Zusammenkunft der Standschützen.
Ob die Zensur einen entsprechenden Bericht herausnahm
– weiße Flecken gibt es ja in jeder Nummer – kann nur
spekuliert werden. Immerhin hatte die Militärverwaltung
kein Interesse daran, dem früheren Bündnispartner Italien
und möglichen neuen Feind von morgen so leicht zu
Informationen über die beginnende Aufstellung einer
neuen Truppe kommen zu lassen.
19
Zur Rolle der Kirche vgl. R
ETTENWANDER
, Matthias: Der
Krieg als Seelsorge. Katholische Kirche und Volks-
frömmigkeit in Tirol im Ersten Weltkrieg (= Band 5 der
Reihe Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft, hrsg. von S
CHOBER
Richard), Innsbruck
2005.
20
Dank an Gottfried Kalser für den Hinweis auf S
CHAU
-
MANN
, Walter: Die Bahnen zwischen Ortler und Piave in
den Kriegsjahren 1915-1918. Einsatz und Leistung der
österreichisch-ungarischen und Kaiserlich deutschen Ei-
senbahnformationen, Wien-Heidelberg 1971, S. 94. –
Schaumann beruft sich bei diesem Detail auf das „Ta-
gebuch der Zugförderung Lienz“.
21
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 76 vom 22.9.1914, S. 3.
22
Zitiert nach: P
IZZININI
, Meinrad, Lienz. Das große Stadt-
buch, Lienz 1982, S. 448.
23
Zitiert nach: O
BERKOFLER
, Gerhard / R
ABOFSKY
, Eduard:
Tiroler Kaiserjäger in Galizien, in: W
EISS
, Sabine
(Hrsg.): Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann
Rainer, Innsbruck 1988, S. 505 ff., hier: S. 506.
24
Zitiert nach Ü
BEREGGER
, Oswald: Der andere Krieg. Die
Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg
(= Band 3 der Reihe Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von S
CHOBER
, Richard),
Innsbruck 2002, S. 395.
25
Zitiert nach Ü
BEREGGER
, a.a.O., S. 393.
26
Lienzer Zeitung, 29. Jg., Nr. 75 vom 18.9.1914, S 2.
27
Vgl. Ü
BEREGGER
, a.a.O., S. 263.
28
Zitiert nach Ü
BEREGGER
, a.a.O., S. 396 f.