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OSTTIROLER
NUMMER 12/2012
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HEIMATBLÄTTER
Boite hinauf nach Cortina d‘Ampezzo mit
dem Zeichenstift zu erkunden. Sein Augen-
merk ist auf „alte interessante Häusergrup-
pen“
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gerichtet, zwei davon sind uns durch
Zeichnungen überliefert. Sie sollten jenes
später verworfene Bildsegment definieren,
das als Ausblick auf eine Dorfgasse konzi-
piert war, durch die sich der Zug der Hirten
zur Geburtsstätte des Erlösers bewegte –
oder sich bereits bewegt hatte. Obwohl
Egger die Bildbreite letztendlich um mehr
als dreißig Zentimeter verringert und die Er-
zählung um den dort entwickelten Abschnitt
gekürzt hat
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, ist es nicht müßig zu fragen, zu
welcher der beiden Varianten er ursprüng-
lich tendierte. Ein im Museum Schloss
Bruck aufbewahrter Bleistiftentwurf zeigt
die Gasse weitgehend menschenleer, wäh-
rend sich in einem sehr allgemein als „Pro-
zession II“ betitelten Bild ein dicht ge-
drängter Kondukt von Klerikern auf ein
nicht näher bestimmbares Ziel hin bewegt.
Das kleinformatige, 1903 datierte Gemälde
wurde bisher noch nicht mit der „Hl. Nacht“
assoziiert, jedoch spricht nicht nur die Über-
einstimmung einer im Cadore angefertigten
Studie mit dem Gebäude, dessen gemauer-
tes Erdgeschoß und fast senkrecht fluch-
tende Untersicht auf den auskragenden
hölzernen Aufbau den Weg am rechten
Bildrand verengt, für einen solchen Zusam-
menhang. Ein nahe der vertikalen Stütze
lokalisierter, erhöhter Betrachterstandpunkt
forciert, trotz des skizzierenden und gleich-
bleibend diffusen Vortrags, die Präsenz der
vordersten Prozessionsteilnehmer beinahe
zur Greifbarkeit. Damit ist nun aber im
Unterschied zum erwähnten Bleistiftent-
wurf ein Gedanke ausgesprochen, den
Egger schließlich im linken Bildteil der Hl.
Nacht durch das Paar auf der Treppe zur
vollkommenen Wirkung entfaltet.
Von einem kraftvoll ins Bild gezeichne-
ten Mittelpfeiler aus öffnet die Bleistift-
skizze den Blick auf die entvölkerte Gasse
und auf die dieser in der Breite entspre-
chenden Treppe, kaum aber auf das zen-
trale Ereignis, mit dessen Ausformulierung,
nach der Klärung des rechten Bildab-
schnitts, Egger den nächsten Arbeitsschritt
setzt. Kirschl verweist auf Impulse, die
Egger aus Fritz v. Uhdes dreiteiligem Ge-
mälde bezog, welches zwei schmale Flügel
weder materiell noch szenografisch an den
Schauplatz des Mittelstücks bindet, und in-
terpretiert den Entwurf auf Schloss Bruck
als „Bemühung, eine solche Dreiheit von
Motiven zur Einheit zu fügen.“
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Egger hatte fünfzehn Jahre vor Arbeits-
beginn an seiner Version zum ersten und
vermutlich auch letzten Mal mit demVor-
bild Bekanntschaft gemacht, denn schon
nach dessen erster Präsentation sah sich
Uhde gezwungen, der heftigen Kritik aus
katholischen Kreisen durch prinzipielle
Änderungen an seinem Werk die Spitze
abzubrechen.
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So wurden im linken Flü-
gel die Gegenwart und soziale Direktheit
der bodenständigen Architektur durch ein
Waldstück neutralisiert und der auf die
Sparren des Stalldaches gehobene Engels-
chor im rechten Flügel – räumlich un-
möglich – durch eine Laterne vom Mittel-
bild aus beleuchtet. Legt man Eggers Rin-
gen um seine Komposition die Problema-
tisierung von Uhdes Gemälde zugrunde,
so hatte er nicht nur Links und Rechts,
sondern konsequenter Weise auch Oben
und Unten logisch zu überbrücken. Blickt
man aber auf seine endgültige Lösung vor-
aus, so geschah dies zur Hauptsache durch
die Akteure und durch das Licht.
Die Akteure
Eggers Aufenthalt im Cadore kann nicht
mehr als eine Woche gedauert haben, denn
„nach einer Fußwanderung von 80 Kilo-
metern von Cortina … nach Bozen“
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und
einemAbstecher nach Landeck schreibt er
am 9. Juli aus Westendorf, dass er hier die
Gruppe der Hirten zu malen gedenke. Es
seien hier nämlich „sehr famose Typen zu
finden“.
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Die Arbeit nach dem Modell
überrascht ihn schon bald mit einer male-
rischen Situation, die er demWeihnachts-
thema für den Augenblick vorzieht: „Es
wird ein alter Mann im Dunkel sitzend und
im Mittelgrund arbeitet ein Mädchen.“
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Wir kennen das unter dem Titel „Bauer
und Magd“
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durch Kirschl verzeichnete
Resultat dieses Umschwunges nicht, des-
sen Format mit einer Ölstudie zum Paar
auf der Treppe übereinstimmt
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und dessen
knappe Beschreibung auch auf die als
„erster bekannter Entwurf zur Heiligen
Nacht“
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überlieferte Darstellung der Hei-
ligen Familie zutrifft. Es ist durchaus
denkbar, dass Egger, in Abänderung des
durch die Bleistiftzeichnung nur vage skiz-
zierten Mittelteils, diese Variante in Wes-
tendorf erstmals probiert hat.
Indes entschädigt uns für die allenfalls
durch unbewiesene Annahmen zu schlie-
ßende Wissenslücke ein Bild, das Kirschl
als „das Ergebnis der Unterbrechung in
Westendorf“ und als eine der „interessan-
testen Arbeiten Eggers aus dieser Zeit“
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einschätzt. Hier allerdings arbeitet, den
Augen des Betrachters unmittelbar ausge-
setzt, ein Mädchen im abgedunkelten Vor-
dergrund. Durch eine geöffnete Tür und
weitere Räume hindurch wird der Blick in
die Tiefe in eine hell erleuchtete Wirts-
Albin Egger-Lienz, Studie zur
Christnacht II; Öl/Lw., 37 x 30 cm, 1903.
(Privatbesitz)
Albin Egger-Lienz, Die Kellnerin; Öl/Lw.,
52 x 43 cm, 1903.
(Lienz, Museum der Stadt Lienz Schloss
Bruck)
Foto: Foto Vaverka, Innsbruck
Fritz v. Uhde, Zug der Hirten. Erste Fas-
sung des linken Flügels zur Hl. Nacht;
Öl/Lw., 134 x 49 cm, 1888.
(Staatliche Kunstsammlungen Dresden)
Foto: Rep. aus Dorothee Hansen,
Fritz von Uhde, Bremen 1998