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OSTTIROLER
NUMMER 12/2012
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HEIMATBLÄTTER
gen Frau versammelt hat, aus. Ihre Auf-
merksamkeit gilt dem Neugeborenen, das
die Frau im Schoß hält und dem sie ihr von
einem Schleier bedecktes Haupt in mütter-
licher Zärtlichkeit zuneigt. Links steigt, mit
der einen Hand – die übrigens eine der pro-
minentesten Stellen des Bildes verkörpert –
einen Stock und mit der anderen das Stie-
gengeländer festhaltend, ein älterer Mann,
dessen Gesichtszüge ein breitkrempiger
Hut beschattet, die Treppe herab. Vom Be-
gebnis in der Tiefe des Raumes nimmt er –
noch! – keine Notiz, hinter ihm aber blickt
seine junge Begleiterin aus einer halb ge-
öffneten Tür auf die Szene. Ein durch-
brochener Zwischenboden, der sich vom
unteren Rand leicht schräg in das Bild
schiebt, distanziert auch den Betrachter
vom zentralen Geschehen und lässt ihn das
Paar auf der Treppe, dem er für einen
flüchtigen Moment auf Augenhöhe begeg-
net, zunächst als Hauptdarsteller erleben.
Die Frage, wie die Wahrnehmung „ge-
wisse Konfigurationen von Linie und Farbe
… als Darstellungen natürlicher Gegen-
stände“
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erkennt und unsere „vorikonogra-
fische Betrachtung“ so erst ermöglicht, das
genuin malerische Problem also, wird
unter dem Gesichtspunkt des Bildlichts
noch zu beantworten sein. Zunächst aber
gilt es, das selbst gestellte Rätsel – das ja
von Anfang an keines war – bezüglich des
Themas und seiner Geschichte zu lösen.
Die Identifikation der Personen als Bauer
und Magd, Hirten oder Knechte, als Re-
präsentanten einer rustikalen Gemein-
schaft, ergibt sich aus der bruchlosen Über-
einstimmung ihrer Charakterisierung mit
dem Ambiente. Einzig die Frau mit dem
Kind ist damit unter gewohnten Umstän-
den schwer in Einklang zu bringen, und
doch ist gerade sie es, die das Gesamtbild
harmonisiert: als ein Zeichen, dass hier
Außergewöhnliches, nicht Alltägliches
stattfindet, das aber doch wie etwas
Selbstverständliches hingenommen wird.
Als visuelle Aktualisierung der Weih-
nachtserzählung kann sich die malerische
Darstellung der „Heiligen Nacht“ auf eine
beachtliche Bildtradition stützen. Ein Blick
auf zwei Albin Egger seit seiner Kindheit
vertraute Kompositionen, das linke Seiten-
altarbild der Lienzer Pfarrkirche St. Andrä
(um 1770) und die Innenbemalung des lin-
ken Orgelflügels (1618) daselbst, macht
deutlich, dass der Schauplatz und die Pro-
tagonisten über Jahrhunderte weitgehend
gleichbleibenden Konventionen aber ver-
änderlichen Choreografien gehorchen.
Doch auch für das, was frühe Biografen
als Eggers Bruch „mit der herkömmlichen
Art des Malens von Heiligenbildern“
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oder, radikaler noch, als „Lästerung“ wider
die „unantastbaren Kompositionsgesetze“
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bewerten, wurden Vorbilder namhaft ge-
macht: Rembrandts Hirtenanbetung (1646)
in der Alten Pinakothek in München und
Fritz v. Uhdes „Hl. Nacht“, deren Erst-
fassung 1888 im Münchner Glaspalast
ausgestellt war.
Der Schauplatz
Die Entstehungsgeschichte von Eggers
Hl. Nacht hat Wilfried Kirschl anhand der
Vorarbeiten und darauf bezogener Schrift-
zitate ausgiebig rekonstruiert. Sie sei hier
zusammenfassend, mit ein paar Ergänzun-
gen versehen, berichtet.
Am 24. Juni 1903 trifft Egger-Lienz in
Pieve di Cadore ein, um von dort, wie er
seiner Frau brieflich mitteilt, den Valle del
Albin Egger-Lienz, Prozession II; Öl/Lw., 47 x 61 cm, 1903.
(Privatbesitz)
Albin Egger-Lienz, Tiroler Dorfgässchen;
Bleistiftzeichnung, 30,7 x 22,9 cm, 1903.
(Privatbesitz)
Rep. aus Katalog der Kunstauktion
Dorotheum Wien, Nr. 277, 1972
Albin Egger-Lienz, Bleistiftentwurf zur Christnacht; 22,7 x 29,7 cm, 1903.
(Lienz, Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck)
Foto: Foto Baptist, Lienz