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„Es gehört zum
Schwersten, Kunst-
werke zu sehen, die
so berühmt sind,
dass man sie schon
gekannt hat, bevor
man noch recht
wusste, was ein
Kunstwerk ist.“
1
Um einen Ausweg
aus dieser Lage zu
finden und die zum
Verständnis nötige
Distanz zu gewin-
nen, empfiehlt Otto
Pächt, der solche
Überlegungen im
Zusammenhang mit
Rembrandts
„Nachtwache“ an-
stellt, ein Gedan-
kenexperiment: Die
Betrachtung des be-
treffenden Kunst-
werks soll abseits
seiner Einordnung
unter einen be-
stimmten Gattungs-
begriff, seines The-
mas und dessen Ge-
schichte von jener
„vorikonografischen“
Stufe aus erfolgen,
die einzig die empi-
rischen Bilddaten,
ohne die von ihnen
getragene Bedeu-
tung, zu erfassen
erlaubt.
Diese Übung fällt vor einem Arrange-
ment von Gebrauchsgegenständen, Blu-
men und Früchten, vor der Darstellung des
Alltäglichen, naturgemäß leichter als vor
einem biblisch motivierten Ereignis, schon
gar wenn dieses, wie die Heilige Nacht, zu
den am häufigsten bearbeiteten Sujets der
christlich-abendländischen
Kunstge-
schichte gehört. Der Max Liebermann
(1847 – 1935) zugeschriebene Ausspruch,
ein gut gemalter Kohlkopf sei bedeutender
als eine schlecht gemalte Madonna, favo-
risiert jedenfalls die Zusammensetzung der
Form gegenüber der Auseinandersetzung
des Inhalts und, auf der Betrachterseite,
den Kunstgenuss gegenüber der Erbauung,
Belehrung und der „Wut des Verstehens“
2
.
Als Albin Egger-Lienz im Sommer 1903
seine Arbeit an der
„Hl. Nacht“ vorläu-
fig einstellt und ihre
„gedankliche
Durcharbeitung“
einer „rein maleri-
schen Aufgabe“ op-
fert
3
, ist das letzte
Wort zu diesem
Problem aber längst
nicht gesprochen.
Seine Kritik an den
„heutigen Nurma-
lern“
4
und ein blei-
bendes Interesse an
der sakralen Hand-
lung münden gera-
dewegs in den als
„monumental-deko-
rative Periode“ be-
zeichneten Schaf-
fensabschnitt, ja sie
weisen noch über
diesen hinaus. Und
so gebietet eine spä-
testens durch Wil-
fried Kirschl vorge-
legte Schau auf
Eggers Gesamtwerk,
die 1905 erstmals
ausgestellte „Hei-
lige Nacht“ als ein
Schlüsselwerk für
die künstlerische
Entwicklung des
Lienzer Malers zu
reklamieren.
Das annähernd
quadratische Bild
zeigt uns den Ausschnitt eines bäuerlichen
Wirtschaftsgebäudes, das Innere einer
Scheune, dessen geringe Ausleuchtung nur
die für die szenische Gliederung bedeut-
samen architektonischen Einzelheiten
erkennen lässt: Senkrechte Stützen und
waagrechte Balken sondern im Mittelgrund
eine Gruppe von Personen, die sich im
Gebet vor einer am Boden sitzenden jun-
NUMMER 12/2012
80. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Albin Egger-Lienz, Heilige Nacht; Öl/Lw., 95 x 95,5 cm, 1903.
(Lienz, Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck)
Foto: Foto Vaverka, Innsbruck
Rudolf Ingruber
Albin Egger-Lienz: Die Heilige Nacht
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