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stube gezogen, in der ein Gast augen-
scheinlich seine Bedienung erwartet. Das
ganze Bild ist in pastosen Tupfen und Stri-
chen offen gemalt, die Figur im Hinter-
grund skizzenhaft in eine Erscheinung des
Lichts aufgelöst.
Wilfried Kirschl erinnert die „Kellnerin“
(1903) durch die Raumkonstruktion und
„ihre reichgestufte tonige Farbigkeit … an
beste Arbeiten Gotthard Kuehls“
19
, doch
erfreute sich das Sujet seit der Mitte des
19. Jahrhunderts bei den Malern fast all-
gemeiner Beliebtheit. Adolph v. Menzel
und wiederum Fritz v. Uhde seien hier
stellvertretend genannt, vor allem aber
Manet, dessen „Bar aux Folies-Bergère“
(1881/82) den Gastraum in einem die
ganze Bildbreite einnehmenden Spiegel
reflektiert und so, Vorder- und Hintergrund
miteinander vertauschend, den Betrachter
in die Fiktion des Gemäldes hineinnimmt.
Hier messen sich Naturalismus und Im-
pressionismus an der nur schwer zu über-
bietenden Naturbeobachtung älterer Meis-
ter: Diego Velazquez hatte das höfische
Gruppenportrait „Las Meninas“ schon
1656 als Modellpause im profanen Am-
biente seines Malateliers und das gesamte
Szenario, nach einer nicht ganz von der
Hand zu weisenden Meinung
20
, in einem
Spiegel gesehen.
Das Licht
Eggers Bemühen um die Anbindung der
Hirtenschar und das Paar auf der Treppe
beschreiben das Geschehen bevor sich die
Handlungsträger zu jenem homogenen
Ensemble formieren, das man als Hirten-
anbetung im hergebrachten Sinne zu lesen
erwartet. Dazu leisten Momente, die bis
dorthin am Modell zu beobachten waren,
die besseren Dienste als sämtliche Bild-
konventionen der Heiligen Nacht. Die V
ariation der Beleuchtung spielt eine nicht
zu unterschätzende Rolle, ja man kann
sogar aus der bisher verfolgten Entwicklung
und aus Eggers Selbstzeugnis schließen,
dass er den rechten Bildteil mit dem Aus-
blick ins Freie zu jenem Zeitpunkt verwarf,
an dem er das Atelierlicht als gestalteri-
schen und integrativen Faktor entdeckte.
Man hat in diesem Zusammenhang auf
das Vorbild Rembrandts verwiesen
21
, ohne
jedoch den entscheidenden Unterschied
festzuhalten. Während in den meisten Dar-
stellungen des Barocks das Christkind
selbst als überirdisches Licht die Szene er-
hellt, führen Rembrandt und Egger-Lienz
durch höchst irdische Lichtquellen die-
selbe Wirkung auf natürliche Ursachen zu-
rück. Dient aber bei Rembrandt eine nahe
an das Kind in der Krippe gehaltene
Lampe dem hl. Josef als Mittel zu dessen
aktiven Präsentation, lässt die Laterne in
Eggers Gemälde kaum zweifeln, dass sie
der Maler selbst an den entsprechenden
Platz gestellt hat. Ihr Schein hebt in feins-
ten Abstufungen die Physiognomien der
um sie gruppierten Personen aus dem
Dunkel hervor, als Reflex des Wunders,
welches zu schauen den Hirten als Ersten
die Gnade zuteil wird.
Das Motiv, das strahlenförmig seine
Schatten auf den Holzboden zeichnet, war
ohne weiteres am natürlichen Vorbild, viel-
leicht aber gerade deshalb für Egger längst
schon am Vorbild der Kunst zu studieren.
Gerard Dou (1613 – 1675), der zwar bei
weitem nicht die Vielseitigkeit seines Leh-
rers Rembrandt erreichte und sich daher
auf Nachtstücke spezialisierte, hat es in sei-
ner „Abendschule“ 1660 effektvoll in
Szene gesetzt. In seinem Oeuvre sind auch
die Anregungen für die junge Frau mit der
Kerze zu finden, die ihre Hand vor die
Flamme hält, um sie vordergründig vor
dem Erlöschen durch die eigene Bewegung
zu schützen. Auf der symbolisch-ikonolo-
gischen Deutungsebene ist damit jedoch
der Respekt ausgedrückt vor dem Licht,
das von dem Neugeborenen ausstrahlt und
nach Abschluss der Handlung sie selbst
und ihren Begleiter erfassen wird.
Anmerkungen:
1 Otto P
ÄCHT
, Rembrandt, München 1991, S. 19.
2 In seiner Abhandlung über die Hermeneutik will Jochen
Hörisch dafür sensibilisieren, dass „Verstehen nicht
immer und an allen Orten selbstverständlich war und
ist, weil das, was selbstverständlich ist, aufhört es zu
sein, wenn es verstanden und gar interpretiert wird2. Jo-
chen H
ÖRISCH
, Die Wut des Verstehens, Berlin 2011.
3 Dies geht aus einem Brief Eggers an seine Frau Laura
hervor. Zit. bei Wilfried K
IRSCHL
, Albin Egger-Lienz.
Das Gesamtwerk, Wien 1996, Bd. I, S. 80.
4 Albin Egger-Lienz, Defregger und sein Können. Zum
80. Geburtstag Franz v. Defreggers. Zit. bei K
IRSCHL
,
wie Anm. 3, Bd. II, S. 671.
5 Erwin P
ANOFSKy
, Sinn und Deutung in der bildenden
Kunst, Köln 1996, S. 38.
6 Josef S
OyKA
, A. Egger-Lienz. Leben und Werk, Wien
1925, S. 16.
7 Curt H. W
EIGELT
, Albin Egger-Lienz, Berlin 1914,
S. 27.
8 AEL an Laura, Lienz, 16. 6. 1903. Zit. bei K
IRSCHL
, wie
Anm. 3.
9 K
IRSCHL
, Bd. II, S. 522.
10 K
IRSCHL
, Bd. I, S. 80.
11 Dorothee H
ANSEN
, Fritz von Uhde. Vom Realismus
zum Impressionismus, Bremen 1998, S. 112-115.
12 K
IRSCHL
, Bd. I, S. 80.
13 AEL an Laura, wie Anm. 3.
14 Ebd.
15 K
IRSCHL
, Bd. II, S. 523.
16 Maßangaben bei K
IRSCHL
, wie Anm. 15.
17 K
IRSCHL
, Bd. I, S. 79 (Abbildung).
18 K
IRSCHL
, Bd. I, S. 80.
19 Ebd.
20 Werner S
CHMALENBACH
, Über die Liebe zur Kunst und
die Wahrheit der Bilder. Gespräche mit Susanne Henle,
Ostfildern-Ruit 2004, S. 127 f.
21 Heinrich H
AMMER
, Albin Egger-Lienz, Innsbruck-
Wien-München 1930, S. 80.
OSTTIROLER
NUMMER 12/2012
4
HEIMATBLÄTTER
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren
verantwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer: Mag.
Rudolf Ingruber, A-9900 Lienz, Ruefenfeld-
weg 2b
Manuskripte für die „Osttiroler Heimatblät-
ter“ sind einzusenden an die Redaktion des
„Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzinini,
A-6176 Völs, Albertistraße 2 a.
Gerard Dou, Die Abendschule; Öl/Holz., 53 x 40,3 cm, um 1660.
(Amsterdam, Rijksmuseum)
Foto: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Night_School_-_Gerard_Dou.jpg