Seite 3 - H_2000_08-09

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der landesfürstlichen Oberhoheit und Kon-
trolle, administrative und richterliche
Rechte gemeinsam mit den damit zusam-
menhängenden finanziellen Ressourcen
überlassen. In allen entsprechenden Verträ-
gen zwischen Maximilian einerseits und
dem Brixner Bischof und den Wolkenstei-
nern andererseits ist ein hoheitsrechtlich
wesentlicher Grundsatz verankert: Alle Be-
schwerden, alle Berufungen gegen Urteile
der lokalen Gerichte haben in die Grafschaft
Tirol, konkret an die Innsbrucker Regierung
und an den dort angesiedelten höchsten Ge-
richtshof zu gehen. Den Wolkensteinern
wurde, damit sich in Lienz der Glanz einer
Residenz nicht ganz verliere, ein Sondersta-
tus zugebilligt. Die aus görzischer Zeit stam-
mende Institution einer Hauptmannschaft
oder Anwaltschaft Lienz durfte beibehalten
werden, eingeschränkt allerdings auf das
Territorium der Herrschaft Lienz. Der hier
ansässige Adel hatte bei der Anwaltschaft
seinen Gerichtsstand bzw. konnten nicht-
adelige Untertanen bei ihr gegen Urteile des
Stadt- und des Landgerichts Lienz berufen.
Dieser gerichtliche Instanzenzug über eine
eigene Anwaltschaft hielt sich als eines der
wenigen Relikte aus görzischer Zeit bis in
das späte 18. Jahrhundert. Ferner wurde den
Wolkensteinern zugestanden, dem Lienzer
Landrichter, der gemeinsam mit seinen
Geschworenen die Todesstrafe verhängen
durfte, den Blutbann zu verleihen. An und
für sich war die Verleihung eines Blutban-
nes, der einen Richter erst befugte, Todes-
und andere schwere Strafen auszusprechen
und zu vollstrecken, ein landesfürstliches
Reservatrecht. Die Wolkensteiner genossen
ein weiteres Privileg. Namens des Landes-
fürsten durften sie die früheren görzischen
Lehen, soweit sie in der Herrschaft Lienz
lagen, an Dritte verleihen. Alle anderen gör-
zischen Lehen in den Pustertaler Gerichten
wurden hingegen an den Innsbrucker
Lehenhof gezogen und von dort, wie andere
landesfürstliche Lehen, zentral verwaltet
und ausgegeben.
Wenn nicht alle Indizien trügen, war die be-
troffene Bevölkerung mit dem Lauf der
Dinge, der ein Aufgehen in der Grafschaft
Tirol ahnen ließ, durchaus zufrieden.
Angst und Unsicherheit löste allerdings
Maximilians überfallsartige Entscheidung
noch im Jahre 1500 aus, dem Bischof von
Brixen einige görzische Gerichte abzutreten.
Unter dem Krummstab wollte man lieber
nicht leben, befürchtet wurde, der Bischof
würde in den von ihm übernommenen Ge-
richten mit der Zeit Maximilian als Landes-
herr ablösen, die Vordere Grafschaft Görz
könnte in einen tirolischen und einen brix-
nerischen Teil zerfallen. Auf diesem
Hintergrund sind zwei prompt an den Kaiser
gerichtete Petitionen zu verstehen, die eine
unterzeichnet von der „ganz Landschaft ob
und under der Klausen zu Luennz“, die an-
dere eingereicht von der „stat Luentz und
die gerichtsleut der gerichten hievor ze Lan-
den“. Hinter den Absendern steckten zwei
gesellschaftliche Gruppierungen, unter der
Landschaft ist der görzische Adel zu verste-
hen, im zweiten Brief deponierten die Bür-
gergemeinde von Lienz und die bäuerliche
Bevölkerung in den görzischen Gerichten
ihre Anliegen und Sorgen. Der Tenor beider
Schreiben, die wahrscheinlich aufeinander
abgestimmt waren, lautete, Maximilian
möge als Landesherr der görzischen Lande
die Gerichte ja nicht aus der Hand lassen
und sie nicht auseinanderreißen. Es wurde
dafür (allerdings erfolglos) plädiert, den gör-
zischen Gerichten wie bisher die Haupt-
mannschaft als gemeinsame Gerichtsinstanz
zu belassen.
Die Integration
Wie aus all dem zu ersehen ist, kann von
einem feierlichen Anschluss der Vorderen
Grafschaft Görz an die ungleich mächtigere
Grafschaft Tirol schlecht die Rede sein. Es
war eher ein Bündel von unscheinbaren und
nüchternen administrativen Maßnahmen, die
dafür sorgten, dass Land und Leute dort hin-
einwuchsen, wo sie dazugehören sollten.
Den wichtigsten Schritt in diesem schlei-
chenden Prozess der Integration setzte 1506
die Tiroler Landschaft auf dem Landtag in
Sterzing. Auch wenn ihr Entgegenkommen
alles andere als uneigennützig war, die
Landschaft oder Landstände hatten gewich-
tiges Wort mitzureden, ob und wer zum
Land im Sinne einer Solidargemeinschaft
zählte. Die Ständeversammlung forderte da-
mals Maximilian als Tiroler Landesfürsten
auf, er möge dafür sorgen, dass der Adel in
den Herrschaften Rattenberg, Kufstein und
Kitzbühel (diese Gebiete waren Maximilian
kurz vorher vom Herzogtum Niederbayern
abgetreten worden) sowie im Pustertal er-
fasst und registriert werde, damit er in die
Tiroler Landschaft einbezogen werden
könne, weiters solle er die Stadt Lienz und
die anderen görzischen Gerichte dazu be-
wegen, dass sie sich mit der Tiroler Land-
schaft wegen gegenseitiger Hilfe bei der
Landesverteidigung ins Einvernehmen set-
zen und zu diesem Zweck auf dem Tiroler
Landtag erscheinen. Das war eine Einladung
mit dem unmissverständlichen Wink: glei-
che Rechte, gleiche Pflichten. Die Lands-
tände sind aus der mittelalterlichen und früh-
neuzeitlichen Herrschaftspraxis, die auf
Konsens baut nach dem Motto „Wer Lasten
übernimmt, darf auch mitreden“ nicht weg-
zudenken. Sie verkörpern und repräsentieren
das Land, sind das Sprachrohr seiner politi-
schen Eliten. Auf den Landtagen, den Voll-
versammlungen der Landschaft, konnten sie
ihre Anliegen vorbringen, die Versäumnisse
der landesfürstlichen Verwaltung kritisieren.
Vor allem war die Landesverteidigung ihre
Pflicht und ihr Anliegen, die mittels einer
Miliz organisiert war, oder sie bewilligten
für den Notfall jene Gelder, die mittels Steu-
ern aufgebracht wurden, um Söldner anzu-
heuern und in den Kampf zu schicken. Die
Landschaft hatte die Hand am Geldhahn,
das verlieh ihr Macht und Ansehen und
zwang die Landesfürsten zur Kooperation.
In Tirol waren in der Landschaft – eine Spe-
zialität und Errungenschaft, die im Land so-
ziale Spannungen zu dämpfen half – vier
Ständekörper oder Kurien vereint. Neben
den traditionellen Eliten – Adel, Prälaten
(den Vorstehern der vornehmen und alten
Klöster) und Städten – waren in ihr die
ländlichen Gerichtsgemeinden vertreten,
wodurch die Interessen der bäuerlichen Be-
völkerung gewahrt waren. Die Landstand-
schaft der Gerichtsgemeinden, ja selbst die
einer Stadt wie Lienz war für die görzischen
Neutiroler ein Novum, von dem sie profi-
tieren konnten, und sie folgten daher der
Einladung oder Aufforderung, der Tiroler
Landschaft beizutreten. Bereits drei Jahre
später, auf dem Landtag 1509, wurden sie in
die dort beschlossene Lastenverteilung (in
der Sprache der Zeit poetischer mit „Mitlei-
den“ umschrieben) einbezogen. Im Groben
sah diese vor: Sollte zur Verteidigung des
Landes ein Kontingent von 5.000 Knechten
oder Milizionären aufgeboten werden, so
hatten die früher görzischen Gebiete und
Untertanen davon 500 Mann zu stellen. Das
war den Pustertalern und Lienzern, wie die
vormals görzischen Untertanen in Alttirol
bevorzugt angesprochen wurden, dann
doch des Guten zu viel. Aber davon später.
Dass das görzische Pustertal und die Herr-
schaft Lienz nun zur Grafschaft Tirol ge-
höre, schrieb das berühmte Landlibell von
1511 fest. Immerhin war dieses Dokument
ein zwischen Kaiser Maximilian als Tiroler
Landesfürsten und der Tiroler Landschaft
ausgehandelter Vertrag, eine Art Verfas-
sungsurkunde, in der das althergebrachte
Verteidigungs- und Steuersystem der Graf-
schaft Tirol eingehend geregelt wurde.
Die görzischen Gerichte und ihre Bewoh-
ner schickten sich an, sich in die Grafschaft
Tirol zu integrieren, in ein gut organisiertes
und recht modern anmutendes Gemein-
wesen. Das sich seines strategischen und
wirtschaftlichen Stellenwerts innerhalb der
habsburgischen Ländergruppe eingedenk
war und daher trotz regionaler und sozialer
Differenzen selbstbewusst gegenüber seinen
Landefürsten agierte. In Tirol war die Ten-
denz unaufhaltsam, die Tradition des
mündlich tradierten lokalen Gewohnheits-
rechts hinter sich zu lassen, das Recht zu
vereinheitlichen und schriftlich zu fixieren,
wobei die Landstände zu den treibenden
Kräften zählten. Auf Druck der beiden un-
teren Landstände, der aufbegehrenden und
störrischen Gerichtsgemeinden und der
Städte, denen an einer Normierung des
Rechts und des staatlichen Handelns gele-
gen war, erließ der Landesfürst 1526 eine
Tiroler Landesordnung, ein Gesetzeskom-
pendium, das die unterschiedlichsten
Rechtsmaterien aufbereitete. Überarbeitet,
systematisiert und erweitert wurde dieses in
Form der Tiroler Landesordnung von
1532, die wiederum durch die von 1573 ab-
gelöst wurde, ergänzt durch eine Polizei-
ordnung aus dem selben Jahr. In den görzi-
schen Landen war man von derartigen Um-
wälzungen weit entfernt gewesen, dort hatte
noch weitgehend zersplittertes Gewohn-
heitsrecht geherrscht. Da sich keine lokal
übergreifende Rechtstradition hatte ausbil-
den können, war es ein Leichtes, in den ehe-
mals görzischen Gebieten das tirolische
Recht, wie es in den Landesordnungen
niedergelegt war, gelten und anwenden zu
lassen. So selbstverständlich war diese
„Rechtsanpassung“ nicht, wie das Beispiel
der drei zu Tirol gekommenen bayerischen
Landgerichte zeigt. Diesen neuen Landes-
untertanen gegenüber musste sich Tirol zu
Konzessionen bequemen. Ausdrücklich
ausgenommen vom Geltungsbereich der Ti-
roler Landesordnungen waren die Landge-
richte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg.
Dort sollte weiterhin das angestammte ober-
bayerische Landrecht von 1346 Rechtskraft
genießen und die Tiroler Landesordnungen
nur subsidiär als Rechtsquelle herangezogen
werden.
Es ist kein Zufall, wie gleich zu erläutern
Nummer 8-9 –– 68. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r