Seite 6 - H_2003_09-10

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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
71. Jahrgang – Nummer 9-10
Buben und auch wir Alten entledigten uns
der Hemden. Bei der Traumquelle in der
Nilalm gab es die verdiente Rast.
Beim weiteren Aufbruch ein Kampf um
den Korb. „Pappi“ wurde hart und befahl
dienstlich die Übergabe. Er legte sich das
Korbgeflecht auf die ungebräunten
Schultern und nach gut zwei Stunden Geh-
zeit waren wir am Ziel. „Pappi“ versuchte
mit ein paar Sprüchen seine Müdigkeit zu
verschleiern.
Am Abend gab es großes Hallo in der
Stube mit Suppe und Schmarrn, bis auf
den Tellerrand ausgeschleckt. Der Chef
verbarg unter dem sauber gebliebenen
Hemd die Striemen der Korbgurten und
den aufkommenden Sonnenbrand. Zum
Morgengruß bei aufgehender Sonne auf
der Hüttenterrasse beantwortete er die
Frage nach seinem Wohlbefinden mit dem
Zitat des Schliederle Bauern: „Men-
schenfleisch muss gepeinigt werden, aftn
wird’s zach“, das der Alte von Kals, Niet-
sche-verwandt, unter einer Heulast von
sich gegeben hatte – in der AV-Jugend
längst ein Schlüsselwort. Im leicht geöff-
neten Hemdschlitz zeigte sich tief rot ge-
kränkte Haut mit ausnehmbaren Striemen
auf der Schulter.
Vom Säulkopf zurück, gefüttert und aus-
gerastet, bewegten wir uns noch auf Blu-
menschau um die Hütte. Seppl Thonhau-
ser, unser Hilfssheriff, Dr. Pappenscheller
und ich saßen neben einem Stein mit hell-
rotem Leinkraut. Eine kleine Maid, „Pap-
pis“ eigene Tochter Linda, pirschte sich
bewundernd an den blühenden Polster
heran, steckte die Nase auf die zarten Blü-
ten und erklärte enttäuscht: „die riechen
gar nicht“, und zu Thonhauser gewandt:
„Seppl, warum riechen die nicht?“ Der
fachmännisch, kurz angebunden: „weil sie
keine Zeit haben!“ „Pappi“ lachte schal-
lend, das war Bubenhumor der ihm lag.
Bei Seppls Matura erinnerte er sich noch
daran.
Auch von schwerem Berg-
unglück nicht verschont
Hundert Schutzengel hatten uns all die
Jahre gesund heimkehren lassen. Es mutet
mich heute wie ein Wunder an. Es war
knapp vor meinem beruflichen Umstieg in
die Erwachsenenbildung. Die Alpenvereins-
jugend führten verlässliche Nachfolger.
Ich bemühte mich mit meiner Frau, meine
eigene Brut zu pflegen.
Ein Sonntag im späten Juni. Um 6 Uhr
früh riss mich das Telefon aus dem Bett.
Die Muschel am Ohr meldet sich Pappen-
scheller mit zwei kurzen Sätzen: Ein Schü-
ler sei allein von der Laserzwand zurück-
gekehrt. Der Erzieher mit einem zweiten
Schüler abgestürzt … Das Schlimmste sei
zu befürchten … Ich möchte sofort kom-
men. Flüchtig angezogen saß ich auf dem
Fahrrad und gleich in Heimleiters Kanzlei.
Dort hockte ein zerschundener, total ge-
schockter Bursche aus der 6. Klasse,
stumm, zitternd, den Kopf in die Hände
gestützt und grau im Gesicht. Grau im Ge-
sicht auch der Heimleiter in einer der
schwersten Stunden seiner pädagogi-
schen Meisterjahre. Von dem im Morgen-
grauen jammervoll Abgestiegenen war
stotternd zu erfahren: Beim Aufstieg, an-
geseilt, über die mäßig schwierige
Laserzwand mit dem Ziel Karlsbaderhütte
am späten Samstagnachmittag habe ein
Steinschlag den Erzieher und seinen
Freund aus der Wand geworfen. Ein Stein
habe das Seil abgetrennt, er selbst kam
nicht zu Sturz, fand dann den Erzieher leb-
los, den Mitschüler schwer verletzt am
Ende der Rinne liegen. Er verbrachte die
Nacht bei seinem Freund, der zeitweise
bewusstlos war. Im Morgengrauen ver-
sprach er ihm Hilfe zu holen und stieg ab.
Wir verständigten sofort die Gendarmerie
und die Bergrettung, kümmerten uns um
den Zurückgekehrten, der noch den Ret-
tungsmann, soweit es ging, informieren
musste, und dann begleitete ich den see-
lisch zutiefst getroffenen Heimvater auf
den schweren Gang zur Mutter des verun-
glückten Erziehers. Die sofort aufgestie-
gene Rettungsmannschaft musste am frü-
hen Nachmittag auch den Tod des Mit-
schülers melden.
Unser Schuldiener Seppl führte mich am
Nachmittag nach Spittal, wo ich der Mut-
ter den Tod ihres Sohnes, des verunglück-
ten Mitschülers, melden musste. Der Juni-
sonntag unter einem glasklaren Himmel
blieb mir in seiner Trostlosigkeit bis heute
im Gedächtnis.
Dieses Unglück, erzählten Kollegen,
habe Dr. Pappenscheller nie mehr über-
wunden. Das leidgezeichnete Gesicht
dieses im Wesen so empfindsamen und
gütigen Menschen ist eine meiner letzten
starken Erinnerungen an unseren Doktor.
Mit meiner beruflichen Übersiedlung von
der Jugend- in die Erwachsenenbildung ist
mir das Lienzer Schulgeschehen aus dem
Blickfeld gekommen. Immer wieder aber
traf ich österreichweit ehemalige Schüler,
Zöglinge des Bundeskonviktes, wie das alt-
pädagogisch so schön hieß. Beim Auf-
frischen von Erinnerungen ist mir eines
immer mehr aufgefallen: Ging man mit
anderen Lehrern in der Erinnerung ganz
schön ins Gericht zwischen wohlwollender
Distanz, fallweise aggressiven Attributen,
Dr. Pappenscheller, ihr „Pappi“, war und ist
sakrosankt. Je weiter diese unterschiedlich
beruflich tätigen, zumeist erfolgreichen ein-
stigen Heimschüler sich von den not-
gedrungenen Zwängen und Widerwärtig-
keiten ihrer beginnenden Sturm- und
Drangphase entfernt hatten, um so mehr
wurde für sie der „Pappi“ ein Übervater. In
seiner Integrität und Gerechtigkeit unan-
greifbar, in seiner Wohlmeinung und not-
helfenden Gesinnung liebenswert wie we-
nige seiner Zunftgenossen.
„Wie wird‘s wohl meinen
Buben geh‘n“
Ein Tag zum Heulen vor Freude für Er-
zieher und Schüler. Das Zeugnis mit
Selbstzufriedenheit, ein wenig Elternangst
oder vollem Lehrerhass in die strapazierte
Schultasche entsorgt, das Mittagessen im
Heim hinuntergewürgt und dann beim Tor
des Konviktshofes hinaus in die endliche
Freiheit. Dr. Pappenscheller steht neben
dem Kastanienbaum, die Schatten der
Blätter auf seinem weißen Mantel und
schaut den Davonstürmenden nach. „Ein
Traumtag – freust du dich auch auf den
Sommer?“ rede ich meinen Chef an. Er
sieht an mir vorbei und meint mit belegter
Stimme: „Wie’s unseren Buben wohl
gehen wird, in den Ferien?“ In dem Satz
lag so viel versteckte Liebe und Sorge um
seine Buben, wie ich sie aus seiner tro-
ckenen Zurückhaltung noch nie registriert
hatte.
Viele Sommer sind seither über Land
gegangen, Lienz, eine moderne schöne
Provinzstadt, das Gymnasium in einem
attraktiven Neubau, „Pappis“ Traum,
Heimleiter in einem neuen, zeitgemäßen
Konvikt hatte sich erfüllt. Nach gut dreißig
pädagogischen Meisterjahren ging auch
unser „Pappi“, vermutlich mit weher
Seele, zum Tor hinaus – verbraucht, mit
angeschlagener Gesundheit, nach einem
großen Tagewerk. Schulische und urbane
Öffentlichkeit gab sich wenig Mühe, sein
Abschiednehmen zu vergolden. Adolf
Pappenscheller, ein Mann ohne Eitelkeit,
hätte ohnedies Titel und Gold aus dem
Jahrmarkt österreichischer Eitelkeit mit
einer Handbewegung in die Bedeutungs-
losigkeit verwiesen. Die späte Ehrung, die
ihm seine Buben durch Initiative von
Univ.-Prof. Dr. Heinz Brandl nunmehr
erwiesen, mag der „Pappi“ von einem bes-
seren Horizont aus mit Freude zur Kennt-
nis nehmen. Uns bleibt der Respekt vor
einem großen Mann, der so viel junges
Leben im Land zum Leuchten gebracht
hat.
Üblicher Samstag-„Freiluftnachmittag“ (Wanderung im Lienzer Talboden): Konvikts-
gruppe 7 (Klasse 4a) mit Prof. Dr. Paul Meyer (1954).