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Nummer 9-10 – 71. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
Im Hause muss beginnen,
was leuchten soll im Vaterland.
Dieses bekannte Wort von Jeremias
Gotthelf hing als Leitspruch in der Kanzlei
des Konviktsleiters, vom Kollegen Reitter
kunstvoll geschrieben. In den frühen fünf-
ziger Jahren, von denen hier die Rede ist,
war das Haus, örtlich gemeint, noch eine
halb sanierte Bombenruine und das Vater-
land, die ausgeblutete, von vier Mächten
besetzte Zweite Republik. Allein mit viel
Zukunftsmut ging die junge Lehrergenera-
tion an die Arbeit. Dr. Pappenscheller war
durch seinen Totaleinsatz mit nicht umzu-
bringendem Optimismus unser Vorbild.
Mit gut 40 Zöglingen war er 1947 in das
Lienzer Bundeskonvikt, das erwähnte
noch zerbombte alte Spital, eingezogen.
Fünf Jahre später sorgte er schon für gut
160 Schüler des Gymnasiums neben eini-
gen Haupt- und Handelsschülern. Der
schwierige Start aus dem Nichts verlangte
einen Arbeitseinsatz, den man sich heute
kaum mehr vorstellen kann. Das Konvikt
war gezwungen, den laufenden Betrieb,
Personal- und Verpflegskosten aus den
Platzgebühreinnahmen selbst zu tragen.
Dies war nur durch einen Minimal-Perso-
nalaufwand möglich. So war der Heimlei-
ter in einer Person pädagogischer Leiter,
Wirtschaftsleiter, Buchhalter, von seiner
Frau unentgeltlich unterstützt, auch für den
Einkauf, den Speiseplan, die vorgeschrie-
bene Kalorienberechnung und die Arbeit
einer Beschließerin zuständig. Markenzei-
chen für die Vielfalt seiner Heimfunktio-
nen war der weiße, durch handfestes Zu-
greifen nicht immer blütenweiße Mantel.
Dr. Pappenschellers Tagewerk
Die Wochentage liefen beim „Pappi“,
wie die Zöglinge sagten, beim „Doktor“,
wie er bei den Erziehern hieß, in wieder-
kehrendem Volleinsatz.
Um 6 Uhr herum einen „Schwarzen“,
dann im Büro, anfangs noch im 1. Stock
des Stöckelgebäudes, nach mühsamen Re-
novierungsarbeiten dann im Parterre-Eck
des alten Spitals. Zwischen Frühstück und
Schule im Wirbel des Heimes, zwischen
Tür und Angel Informationen und Fragen
an die Erzieher, ein aufmunterndes Wort
an ein traurig hängendes Zöglingsgesicht
und immer wieder das Telefon.
Am Vormittag der Gang durch das Haus
mit Blick auf die ständigen Reparaturen,
Beratung mit der Köchin über eine nahr-
hafte, nicht immer allen schmeckende Ab-
fütterung, dann mit dem Fahrrad in die
Schule, die ersten Jahre noch ins Klösterle
hinauf, ab 1951 in die Franz Josefs-Ka-
serne hinaus. Zwei Stunden Unterricht in
Deutsch, gut vorbereitet, sprichwörtliche
Genauigkeit, wo immer es um Sprache
und Rechtschreibung ging. Feinheiten der
Grammatik und das richtige Setzen der
Beistriche waren sein besonderes Ste-
ckenpferd. Ein Schüler von damals lacht
heute noch, wie ihm Dr. Pappenscheller
das Schularbeitenheft geöffnet auf die
Bank servierte, die Seiten massakriert mit
roten Zeichen und dazu der Kommentar:
„Hm, du streust die Beistriche wie
Schnittlauch in die Suppe!“
Im Konferenzzimmer häufig SOS-Ge-
spräche mit Lehrern, bei denen Heimschü-
ler auf der Liste standen, über Mittag Ge-
spräche mit besorgten Eltern in der Kanz-
lei, mit unsäglicher Geduld beim Zuhören
trostbedürftiger Mütter. Verspätet Mittag-
essen am „Pappitisch“ in der Küche mit
den Kalorienlisten neben dem Suppentel-
ler. Dabei war der Chef wegen der Vor-
bildwirkung meist bei gutem Appetit. Am
Nachmittag saß er in der Kanzlei bei
dienstlichem und pädagogischem Schrift-
verkehr, selbst in die Maschine geklopft.
Vor und nach dem Abendessen häufig
eine Nachhilfestunde in Mathematik und
in Latein, kostenlos selbstverständlich, für
einen besonders gefährdeten „Stinkbol-
zen“, wie die Erzieher die schulischen Ha-
sardeure gerne nannten. Dann noch einmal
im lauten Getriebe des Hauses, Zeuge von
Kinderspaß, pubertärer Hetz, schadenstif-
tendem Unfug und echten Clankämpfen.
Im ganzen Heimwirbel war „Pappi“
immer der ruhende Pol mit trockenem
Humor, bestaunter Zurückhaltung und nie
lautstark mit Schülern, Angestellten und
Erziehern.
Wenn es im Haus dann still wurde und
seine Frau wieder einmal eine Stunde auf
den Spaziergang mit ihrem Adolf gewartet
hatte, machte das Heimleiterehepaar den
kleinen oder den großen Rundgang durch
die Stadt, die er mochte. Abschließend traf
man sich gern zu einem Bier mit dem Kon-
viktsarzt Dr. Unterweger im Cafe Hauer.
Und dann der Sonntag
Meine Heimgruppe, Revoluzzer der 4.
und 5. Klasse, war ein erlesener Haufen
von Talenten und Unfugstiftern. Der
„Pappi“ mochte die Gesellen, allein bei
anhaltenden schulischen Misserfolgen
wurde er hart. „Die Buben sind zum Ler-
nen da“, war dann sein Spruch und ein
Sonntag mit Studiums-Quarantäne war die
unweigerliche Folge. Bei solchem „Ein-
geturmt sein“ entstand der Gefangenen-
chor:
„Montag ist ein Tag,
den ich gar nicht mag.
Dienstag ist wie Montag,
Mittwoch eine Plag.
Donnerstag, ist grau
Freitag, Samstag blau,
aber dann am Sonntag,
was mach ich arme Sau.“
Die abschließende Identifikation mit
dem armen Tier gefiel dem „Pappi“ weni-
ger, den gewundenen Text hielt er für
schwache Reimkunst. Wenn es die
Schule erlaubte, war er voll für den Wahl-
spruch meiner Gruppe: „Strebt den
Höhen zu!“.
Als alpin begeisterter Erzieher brachte
ich einige Unruhe in das alte Gemäuer an
der Isel. Dr. Pappenscheller war dabei
mein bester Förderer. Am Samstag jeder
Woche kurze Lagebesprechung über die in
Aussicht genommene Wanderung. Frage
eins, das Wetter. Dr. Pappenscheller steht
schon um 5 Uhr im aufhellenden Morgen,
geht zwei-/dreimal durch den Hof und
schaut nach dem Wetter. Traut er dem
Wolkenzug, richtet er in Speis und Küche
die Jause, oft für 20 bis 30 Buben, her:
Dunkles Glieberbrot, Speck, ein Würst-
chen, oft bei einem Bauern erstanden,
einen Apfel und das war es schon. Um
1
2
6
Uhr Wecken der Wanderlustigen, Früh-
stück, die Jause fassen und ab in die Natur.
Für eine Tageswanderung Ziele im Lien-
zer Talboden.
Oft aber schon am Samstag mit Bus zu
einem größeren Aufstieg in einem Tal-
schluss der Iselgründe. Auch Großglock-
ner und Venediger waren dabei Gipfel-
ziele. Mit der wiederkehrenden Verab-
schiedung: „Buben, passt auf euch auf“,
geht der „Pappi“ in sein Büro. Abends
nach guter Heimkehr freut er sich über die
braunen Gesichter und die wandermüden
Knochen seiner Buben, und die Frage aus
dem erleichterten Gesicht ist nur mehr
rhetorisch: „Alles gut gegangen heut‘?“
Der „Pappi“ mit von der Partie
In die Vorbereitung der Bergwochen der
Alpenvereinsjugend zu Ostern und in den
Ferien und der Skimeisterschaften war der
Doktor voll involviert. An einem Ferien-
lager Anfang Juli auf der Bonn-Matreier
Hütte nahm er selber teil. In Obermauern
stiegen wir mit dem Jungvolk, an die 15
Mädchen und Buben im Alter von 12 bis
14 Jahren, aus dem Bus. Von Erbsensuppe
allein, es war noch die Notzeit mit Le-
bensmittelkarten, wollten wir auf der Hütte
auch nicht leben. „Pappis“ Fürsorge ver-
sprach einen eigenen Speiseplan. In
Obermauern stand ein leerer Buckelkorb
für die Lebensmittel, in zwei Säcken ver-
packt, bereit. Mit geübten Schultern
nahm ich die Last, schwache 30 Kilo, bis
zur großen Rast auf der Nilalm. Ein
prachtvoller Tag, Sonne im Genick,
durch Blumenwiesen steil bergauf. Die
Louis Oberwalder
Das Bundeskonvikt Lienz
aus der Sicht eines Erziehers
Dr. Adolf Pappenscheller, der „Übervater“
Dr. Pappenscheller beim Kontrollgang im
Studiersaal der 1. Gruppe (1960).