Seite 3 - H_2003_09-10

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Nummer 9-10 – 71. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
raschungsaktion steigerte sein Ansehen bei
den Zöglingen außerordentlich.
Unsere Gruppe hatte ab 1953 die
Schlafzimmer im ungeheizten Dach-
bodengeschoss der Franz Josefs-Kaserne.
Geschlafen wurde auch bei -25 °C bei
offenem Fenster, die Kaltwasserhähne gab
es einen Stock tiefer. Trotzdem oder ge-
rade deswegen waren wir wesentlich
weniger krank als jene Gruppen, die im
heutigen BORG bereits Zentralheizung
und Warmwasser hatten.
Das Fernsehen gab es in unserer Gym-
nasialzeit im Lienzer Talboden noch
nicht. Im Konvikt hatte unsere Gruppe ab
1956 ein altes englisches Militärradio, eine
scheppernde Blechkiste, aus der wir mit
Prof. Zollner den ungarischen Revolu-
tionssender hören konnten. Er übersetzte
uns mit entsprechender Dramatik die je-
weiligen Nachrichten; für Spannung war
also gesorgt.
20 Jahre später war ich mit einem der
wenigen überlebenden Revolutionsführer
befreundet. Er war fassungslos, dass wir in
einem entlegenen Tiroler Tal den ungari-
schen Freiheitskampf so detailliert verfolgt
hatten.
Die Erinnerungen an die Konviktszeit
sind natürlich stark subjektiv gefärbt;
dabei wirken sich auch die Einbettung in
der jeweiligen Gruppe, die zuständigen Er-
zieher und besondere Erlebnisse als soge-
nannte „Zufallsvariable“ aus. Mit zuneh-
mender zeitlicher Distanz nimmt im All-
gemeinen die Objektivität zu, wie ich in
vielen Gesprächen mit verschiedenen
Jahrgängen beobachten konnte. Allerdings
verklärt die Langzeit-Erinnerung manches.
Aber dennoch, der sogenannte „Kon-
viktsfraß“ war z. B. wesentlich besser als
das, was wir nach der Matura in den Wie-
ner Universitätsmensen vorgesetzt beka-
men, und das heute so beliebte „fast food“
ist bestimmt ungesünder.
Würste waren in den 50er-Jahren noch
eine Kostbarkeit. Sie hingen im Keller des
Konvikts, und trotz der Absperrung wur-
den sie nächtens manchmal kürzer. Die
Verdächtigen wurden dann von „Pappi“
samt Maßband in den Keller geführt, wo er
ihnen die Schandtat cm-genau nachwies.
Zumindest im Herbst bestand die Mög-
lichkeit zu kulinarischen Aufbesserungen
der Konviktsverpflegung, indem man
heimlich an fremden Obsternten teilnahm.
Das Spalierobst in der Franz Josefs-Kaserne
war dabei die kleinste Herausforderung.
Kritisch wurde es, wenn das „geerntete“
(= gestohlene) Obst im Konviktsschrank
versteckt war und plötzlich eine Kasten-
kontrolle drohte. Prof. Jilka war da be-
sonders gefährlich. Außerdem machte er
uns mit seinem präzisen Geometrie-Blick
das Leben schwer: Wenn Hemden, Pullo-
ver etc. nicht exakt und allseits in einer
Flucht lagen, flogen sie umbarmherzig aus
den Fächern. Später beim Bundesheer
wunderte ich mich oft über die Toleranz
bei der Spindkontrolle oder beim Betten-
bau – dort hätte man mehrere Jilkas als
Ausbildner gebraucht.
Bewundert haben wir solche Erzieher,
die ein wandelndes Lexikon waren und die
man nahezu in allen Fächern um Auskunft
bitten konnte. Neben Dr. Pappenscheller
war einer davon Prof. Hugo Walter, der
1954 nach Lienz kam und unsere Kon-
viktsgruppe übernahm. Er war auch unser
Englischlehrer, sodass wir ihm voll aus-
geliefert waren. Ein neuer Besen kehrt be-
kanntlich besonders gut, und wenn sein
drohendes „Büblein komm‘ raus“ er-
schallte, war das allemal gefährlicher als
die „Superbottle“ als wenig schmeichel-
haftes Attribut eines „nicht genügend“
Ausfassens. In Anlehnung an den engli-
schen Seefahrer Sir Walter Raleigh ver-
passte ich ihm den Spitznamen „Sir“, der
ihm bis zuletzt blieb und auch ein hohes
Maß an Respekt enthielt, den wir vor die-
sem Lehrer und Erzieher hatten. Und als
mein Sohn 35 Jahre später ärgere Pro-
bleme in Englisch hatte, brachte ihn der
bereits pensionierte „Sir“ als Nachhilfe-
lehrer innerhalb von zwei Monaten von
„nicht genügend“ auf „gut“, weil er ihn
jeden Tag einen Aufsatz zu verschiedens-
ten Themen schreiben ließ und ihm so die
Lehre fürs Leben beibrachte, dass harte
Arbeit tatsächlich zum Erfolg führt.
Prof. Franz Lederer (ebenfalls unser
Erzieher im Konvikt und Englischlehrer)
war der „Sir Francis“ (nach Sir Francis
Drake).
Die Teilnahme an der Frühmesse am
Donnerstag und an der Sonntagsmesse war
in den 50er-Jahren noch verpflichtend.
Meist mussten wir auch knien, ohne das
Gesäß auf die Bank abzustützen. Zum
Glück zelebrierte damals Dr. Bodner die
Messen extra kurz (oft kamen dann die
Klosterschwestern mit ihren Gebeten
nicht nach und mussten eine zweite Messe
besuchen). Für gefinkelte Diskussionsges-
präche mit den Zeugen Jehovas, die da-
mals Lienz bekehren wollten, waren wir
natürlich bestens vorbereitet.
Trotz gewisser Härten und vereinzelter
pädagogischer Ausrutscher von Erziehern
bewerte ich die Konviktszeit insgesamt als
durchaus positiv. Wenn man alte Fotos an-
sieht, erkennt man überwiegend heitere,
unternehmungslustige Gesichter und
nicht die übersättigte, sogenannte „cool-
ness“ vortäuschende Fadesse vieler heuti-
ger Wohlstandskinder, besonders in den
städtischen Ballungszentren.
Das damalige Gemeinschaftsleben för-
derte auch das Gemeinschaftsdenken und
den Zusammenhalt.
Außerdem bewirkte das „beinharte,
karge, jedoch liebevolle“ Konviktsleben,
wie es Dir. Unterweger im Osttiroler
Boten vom 23. November 1972 formu-
lierte, dass unser „Frustrationsspiegel“
ziemlich hoch lag. Dies erwies sich für das
spätere Leben von unschätzbarem Vorteil.
Neueste Forschungen zeigten einen
weiteren eklatanten Vorteil der damaligen
Erziehungsform auf: Hirnforscher haben
festgestellt, dass der Fronthirnlappen bei
Kindern, die keine Neins hören und keine
Grenzen erfahren, weniger durchblutet ist,
weil sie keine Alternativen entwickeln.
Konkret: weil sie sich nicht mit ihrem
Frust auseinandersetzen müssen. (Dem-
nach war unser Fronthirnlappen wahr-
scheinlich ziemlich gut durchblutet.)
Wie Sie wissen, wurde heute vormittag
im BORG, dem ehemaligen Bundeskon-
vikt, eine Gedenktafel für Direktor Dr.
Adolf Pappenscheller enthüllt. Der künstle-
rische Entwurf stammt von Dr. Georg Reit-
ter, unserem einstigen Zeichenprofessor.
Dr. Pappenscheller war es, der aus einer
Bombenruine eines der blühendsten
Bundeskonvikte Österreichs machte, des-
sen einstige Zöglinge dann bis in höchste
Positionen auf vielfältigsten Gebieten
aufrückten. Unter ihm wechselte schließ-
lich der Konviktsbetrieb in den Neubau in
der Maximilianstraße (1969).
Dr. Pappenscheller und seine Frau
haben sich für das Konvikt regelrecht auf-
geopfert: Vor 1 Uhr früh kam er kaum aus
seinem rauchgeschwängerten Arbeits-
zimmer; Urlaub nahm er maximal zwei
Wochen pro Jahr, seine Frau überhaupt
nie, weil das Konvikt im Sommer externe
Gäste beherbergte. Auf diese Weise ließen
sich die Finanzen zum Wohle der Zög-
linge aufbessern.
Schüler, die Probleme hatten, durften
auch nachts an seine Kanzleitüre klopfen,
denn jeder wusste, wie lange er arbeitete.
Unzähligen Schülern gab er unentgeltliche
Nachhilfestunden in unterschiedlichsten
Fächern. Von Zöglingen, die unmittelbar
nach der schriftlichen Matura ins Konvikt
zurückkamen, ließ er sich die Mathematik-
Angaben überreichen; während die Matu-
ranten noch mit mulmigen Mägen das Mit-
tagessen hinunterwürgten, rechnete ihnen
Dr. Adolf Pappenscheller bereits die Er-
gebnisse aus.
Das Konviktsfest im Rückblick
Der Festsaal im Gymnasium war bis
auf den letzten Platz gefüllt und die
Stimmung bestens.
Äußerst interessant war, wie sich die
Perspektiven von ehemaligen Zöglin-
gen und Erziehern aus der Ära Dr.
Pappenscheller in der Rückschau
verschoben haben:
– Die Erzieher, die einst durchwegs
auch als Professoren am BRG tätig
waren, bewerten heute ihre damalige
Strenge überwiegend als zu hart.
– Die einstigen Zöglinge, die manch-
mal unter dieser Strenge litten, emp-
finden diese heute überwiegend als
richtig und als durchaus erfolgreiche
Abhärtung für das spätere Leben.
– Fazit: Die einstigen Erzieher befin-
den sich bereits im Stadium der
großväterlichen Milde, während die
einstigen Zöglinge noch den Härten
des Berufslebens ausgesetzt sind.
Wenn einzelne Stimmen meinen, dass
im Konvikt „einige Nachkriegspäda-
gogen auch seelische Schäden an Kin-
dern angerichtet hätten“ (Zitat eines
ehemaligen Zöglings in der Tiroler
Tageszeitung vom 15. Juni 2003), so
schmälern solche Ausnahmefälle
keineswegs die herausragende Leis-
tung der damaligen Erziehungsstätte.
Was war eigentlich das Besondere an
diesem Bundeskonvikt der Ära Dr.
Pappenscheller?
Es war die
liebevolle
Strenge, welche
die Zöglinge gespürt hatten. Eine lieb-
lose Strenge, Gleichgültigkeit oder
versteckter Psychoterror können hin-
gegen großen Schaden an jungen See-
len anrichten.