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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
71. Jahrgang – Nummer 9-10
scheller, die weinenden Zehn- oder Elf-
jährigen behutsam einzugliedern. Das
war höchste Psychologie in allen Schat-
tierungen. Z. B. wurde meiner Mutter nach
meinem Ausbruch empfohlen, mindestens
zwei Monate nicht auf Besuch zu kom-
men. Als sie dann nach Ablauf der Frist
kam, strahlte sie der Erzieher (Prof. Weiß)
an: „Wir haben‘s geschafft, er rauft
schon“!
Viele Heimwehkranke hat auch Frau
Pappenscheller in der Küche oder sogar in
der Heimleiterwohnung getröstet und
ihnen mit einem Stück Kuchen die Trau-
rigkeit gelindert.
Fahrten nach Hause waren in der Unter-
stufe nur zu den Ferien erlaubt. In der
Oberstufe gab es je nach schulischem
Erfolg eine Sondererlaubnis für einzelne
Wochenenden. „Halbinterne“ aus Lienz hat-
ten es leichter: Sie waren nur an Wochen-
tagen nachmittags ans Konvikt gefesselt.
In den Nachkriegsjahren war es außer-
ordentlich mühsam, die notwendigen Ka-
lorien für die Zöglinge zu beschaffen (z. B.
Erbsenpulver von der englischen Besat-
zungsmacht, amerikanische Erdnussbutter,
Speck von den Bauern usw.). Der täglich
zu berechnende Kalorien-Verpflegesatz
betrug 2.500. Dr. Pappenschellers Kalo-
rienberechnungen waren apothekerhaft
ausgefeilt. Wirklichen Hunger litten wir
nie, obwohl die sogenannten „Fresspa-
kete“ von zuhause hochgeschätztes Zubrot
bildeten. Diese wurden stets mit den an-
deren geteilt, und wenn wirklich ein ego-
istischer Neidhammel dabei war, wurde er
vom Erzieher psychologisch-diploma-
tisch „zurechtgebogen“.
Die medizinische Betreuung oblag für
kleine Wehwehchen einer fürsorglichen
„Heimmutter“; darüber hinaus war von
1947 bis 1980 Dr. J. Unterweger zustän-
dig. Manchmal holte ihn Dr. Pappen-
scheller auch, um das Krankenzimmer von
Simulanten zu säubern, besonders vor
schwierigen Schularbeiten. Die sonst
sehr mütterliche Frau Pappenscheller
konnte gegen solche „Scheinkranke“
ebenfalls sehr energisch werden.
Schon frühzeitig richtete Dr. Pappen-
scheller eine Heimbibliothek ein. Er sah
sie als Investition in die Zukunft der Bil-
dung und in die Bildung der Zukunft.
Diese Bibliothek förderte zweifellos die
Leselust und Lesekompetenz zahlreicher
Zöglinge. Im Schuljahr 1970/71 erhielt das
Konvikt das erste Sprachlabor Osttirols.
Dr. Pappenscheller und die Erzieher
fühlten sich nicht nur für unsere schuli-
schen und gesundheitlichen Belange ver-
antwortlich; auch ordentliches Benehmen,
persönliches Auftreten und Hilfsbereit-
schaft versuchten sie uns beizubringen.
Diebstähle an Mitzöglingen waren nahezu
undenkbar. Ich habe das in acht Jahren
nicht einmal erlebt; eine Generation später
waren diebische Elstern leider nicht mehr
außergewöhnlich.
Im Gegensatz zu späteren Konvikts-
generationen haben wir sehr viele Berg-
touren unternommen. Dabei hatte der so-
genannte „Nachtreiber“ höchstes Prestige
und nicht der vorneweg Rennende. Der
Nachtreiber musste eine besonders gute
Kondition haben, um den Schwächeren
beizustehen und im Bedarfsfall auch
deren Rucksack zu tragen. Heute sind sol-
che Bergtouren infolge juristischer „Be-
drohungen“ etc. nahezu unmöglich ge-
worden – sehr zum Nachteil der Jugend.
Hervorzuheben seien auch die Tanz-
kurse in der 7. und 8. Klasse, veranstaltet
von Prof. Louis Oberwalder im jeweiligen
Klassenzimmer in der Franz Josefs-
Kaserne. „O“ war Naturbursch und Gentle-
man in einem! Er war später zehn Jahre
lang 1. Vorsitzender des Österreichischen
Alpenvereins. Für seinen Idealismus bin
ich ihm heute noch dankbar, denn die
Tanzkunst war mir in der internationalen
Diplomatie, z. B. bei Festbanketten, auch
oft von beruflichem Nutzen. Außerdem
habe ich auf diesem Wege meine Frau
kennengelernt.
Aber zurück zu unserem Tanzkurs, den
Prof. Oberwalder mit einem alten Gram-
mophon ermöglichte. Die Mädchen
waren natürlich extern, denn ein Kittel
durfte damals an das Konvikt nicht einmal
anstreifen. Nach den Tanzkursen mussten
wir unmittelbar ins Konvikt (heute:
BORG) zurück. Ein nachhause Begleiten
der Mädchen war zu jener Zeit natürlich
nicht erlaubt. Dagegen gab es allerdings
drei Abhilfen, wie man verspätet und
heimlich doch noch ins Konvikt-Schlaf-
zimmer kam:
– „Joint Venture“ mit dem Torwart;
– Bergseil zum Isel-seitigen Fenster;
– Hochklettern an der Dachrinne.
Insgeheim hat „Pappi“ das schon spitz
gekriegt, doch offiziell stellte er sich weit-
gehend unwissend. Das passte auch zu sei-
nen Kontrollgängen mit dem scheppern-
den Schlüsselbund, den man schon von
weitem hörte. Auf die Frage, warum er
sich denn nicht leiser anschleiche, wie
einige Erzieher dies täten, meinte er ver-
schmitzt: „Dann müsste ich ja dauernd
schimpfen!“
Apropos „Anschleichen der Erzieher“:
In der Unterstufe mussten wir um 9 Uhr
im Bett sein, und Sprechen war nicht er-
laubt. Wer erwischt wurde, musste im
Pyjama am Gang stehen, manchmal auch
Liegestütze pumpen. Bei dieser Straf-
aktion war das Reden erst recht verboten,
ebenso das Anlehnen an Mauer, Kasten
oder Pult. Zuwiderhandeln verlängerte die
Stehzeit oft beträchtlich. Natürlich gab‘s in
den Schlafsälen immer etwas zu Tratschen
– und vor allem Polsterschlachten.
Manche Erzieher hatten sich daher Filz-
patschen zugelegt und eine kräftige Stab-
lampe. Die haben uns oft erwischt. Ich
habe damals mit 6 Std. den „Stehrekord“
aufgestellt: von
1
2
8 Uhr abends (Strafreste
vom Vortag) bis
1
2
2 Uhr früh. Aber wir
nahmen es sportlich im Wettstreit des
gegenseitigen Überlistens Schüler – Er-
zieher. Auf diese Weise eigneten wir uns
offensichtlich auch ein „Stehvermögen“
im späteren Leben an.
Lästig, weil schmerzhaft, waren in der
Unterstufe die Kopfnüsse und der
Schlüsselbund mancher Erzieher. Die
Schlüssel waren dazumal größer als
heute, und ihr Aufprall auf ungewaschene
Füße oder Hände tat weh. Deshalb waren
die Konviktler meist sauberer gewaschen
als manche Externe. Auch im Bettenbau
waren wir routinierter, wie sich bei den
Skikursen zeigte.
Während des „Studiums“, wie die
Regel-Lernzeiten im Konvikt hießen
(6.30 bis 7, 15 bis 16.30, 17 bis 18.30 Uhr)
waren Schwätzen und jedwede vom Ler-
nen ablenkende Aktivität verboten. Natür-
lich versuchten wir ständig, dieses Verbot
zu umgehen, aber unser Einfallsreichtum
forderte letztlich auch die Fantasie der Er-
zieher heraus: Zum Beispiel, durch ein
kleines Guckloch in der vom Erzieher mit
geheucheltem Interesse gelesenen Zeitung
waren Übeltäter rasch entlarvt.
Dr. Pappenscheller hat natürlich nicht
nur auf seine Zöglinge geschaut. Auch die
Erzieher hatten in ihm ihren Chef: keines-
wegs einen Despoten, sondern einen Pri-
mus inter pares. Ich kann mich noch gut
erinnern, wie wir unerlaubterweise mit
Prof. F. F. Zollner am Gang Fußball spiel-
ten und „Pappi“ daherkam. „Zoli“ kas-
sierte einen Rüffel, weil dauernd die Lam-
penkugeln kaputtgeschossen waren.
Fußballspiele mit unseren Erziehern
waren überhaupt ein Vergnügen. Der
schottrige Kasernenhof schrammte uns
zwar oft die Knie auf, doch war unsere Be-
geisterung (und Kondition) so groß, dass
wir meist auch bei Bergwanderungen den
Ball mitnahmen, um auf den Almen etwas
zu dribbeln.
Neben Bergtouren und Freizeitsport ge-
hörte auch der Morgensport zur körper-
lichen Ertüchtigung. Nach einigen Lauf-
runden um den Hof der Franz Josefs-
Kaserne war jedermann putzmunter und
geistig aufnahmefähig für das Frühstu-
dium. Wie wichtig Sport in der Jugend für
die spätere Gesundheit und Leistungs-
fähigkeit im Erwachsenenalter ist, führte
Dr. Pappenscheller fallweise selbst vor: So
besiegte er als Sechzigjähriger, ohne jeg-
liches Training, den jugendlichen Sport-
erzieher im Schwimmen. Diese Über-
Erfolgreiche „Konviktler“
Ehemalige Konviktszöglinge sind
heute österreichweit und auch interna-
tional höchst erfolgreich tätig. Nicht nur
einmal war ich überrascht – „der war
ebenfalls dort?“
Beispielhaft seien einige Namen ge-
nannt, auch wenn ich damit wahr-
scheinlich ins Fettnäpfchen trete, denn
wer kennt alle?
Kunst & Kultur:
Wolfgang Wald-
ner, Geschäftsführer des Museumsquar-
tiers in Wien; Peter Weiermair, Kul-
turmanager.
Wissenschaft:
Universitätsprofesso-
ren, z. B. Richard Greiner, Ordinarius an
der Technischen Universität Graz.
Wirtschaft:
Hans-Peter Haselsteiner,
Chef eines international tätigen Bauim-
periums.
Beamtenschaft:
Josef Flögel, Lan-
desbaudirektor von Tirol; Herbert
Kunz, Bezirkshauptmann von Lienz.
Sport:
Peter Schröcksnadel, Öster-
reichs erfolgreichster Sportpräsident
(Österreichischer Skiverband); Reinhold
Durnthaler (zweimal olympisches Silber
im Viererbob).
Medien:
Sepp Forcher.