Seite 3 - H_2006_03-04

Basic HTML-Version

OSTTIROLER
NUMMER 3-4/2006
3
HEIMATBLÄTTER
Sommergäste aus den Niederlanden be-
obachteten am 27. Juni 2005 bei einer
Wanderung von der Boden-Alm bei Prä-
graten (1.955 m) zur Nillhoch-Hütte bei
Virgen (1.980 m) mehrere handtellergroße
blaßrötliche Flecken, die beim Zerteilen
mit dem Stock wieder zusammenflossen
und sich ganz langsam fortbewegten. Sie
erzählten diese Details dem Islitzerwirt
Ludwig Berger in Hinterbichl, der schon
am nächsten Tag aufstieg und eine größere
Probe mitnahm. Das Rätsel war aber noch
nicht gelöst, obwohl Frau und Tochter Ber-
ger auch noch ein paar Fotos als Doku-
mentation beibringen konnten.
Ein Anruf beimAutor ergab keine Fern-
diagnose, daher brachte der Sohn Bernhard
eine Probe in einem großen Glas. Im Mi-
kroskop ergab sich rasch die Zugehörigkeit
zu den Urinsekten und zwar den sogenann-
ten Springschwänzen: 1 mm groß, flügel-
los, sechs Beine, zwei Fühler, kleine Augen
etc. und in dem Glas viele zigtausend
Stück, im Freien wohl viele Millionen.
Zur genaueren Bestimmung von Gat-
tung und Art wurde eine Probe an den Spe-
zialisten Univ.-Prof. Dr. E. Christian, Uni-
versität für Bodenkultur in Wien, ge-
schickt. Die erfreulich rasche Antwort: „Es
war interessant, von dem Massenauftreten
zu hören. Es handelt sich um
Ceratophy-
sella sigillata
, Familie Hypogastruridae,
eine Art, die schon öfter auffällig gewor-
den ist. Die Art ist m. W. neu für Osttirol“.
Ein deutscher Name ist „Schnee-Spring-
schwanz“, eine mehr wörtliche Überset-
zung wäre „Verzierter Kurzspringer“, die
ganze Familie heißt Kurzspringer.
Von diesen Springschwänzen kennt
man weltweit über 5.000 Arten, in Mittel-
europa ca. 2.000. Sie gelten als die
häufigsten Insekten, in Waldböden etwa
2.000 Stück in einem Liter. Am Hinterleib
unten sitzt eine Sprunggabel, die in Ruhe-
lage nach vorne eingeklemmt ist und dann
bei Beunruhigung oder Gefahr nach unten
geschlagen wird. Manche Tier können da-
durch einige cm weit springen, Salto ein-
geschlossen. Sie ernähren sich vielfältig
von zersetzenden Substanzen, Pflanzenres-
ten usw., sind daher wichtige Humusbild-
ner (nach HONOMICHL 1998).
Dunkle Massen dieser Urinsekten
verursachten
zur
Schneeschmelze
(CHRISTIAN 1977) als „schwarzer
Schnee“ allerlei Unglauben, sonst leben
die Tiere versteckt, nur der bestbekannte
„Gletscherfloh“ (
Isotoma saltans
) ist
typisch für sein dauerhaftes Vorkommen
im Eis, ist natürlich kein Floh, kann aber
ebenfalls hüpfen bzw. springen.
Zu Pfingsten 1996 wurde bei Silz im
Oberinntal eine gleiche Ansammlung dieser
Art entdeckt und zuerst als bedenkliche
Chemikalie gedeutet. Die Feuerwehr rückte
aus, 15 Mann mit Schutzkleidung, um die
8 m lange und 1 m breite Substanz abzu-
saugen. Der Sprengelarzt stellte fest, daß es
sich um winzige Tierchen handelt, über das
Zoologische Institut der Universität Inns-
bruck gelangte eine Probe zum gleichen
Spezialisten in Wien. Medien und Fernse-
hen hatten damals ausgiebig berichtet. Über
das Vorkommen in Prägraten gab es einen
namenlosen Kurzbericht in der Tiroler
Tageszeitung (vorgelegt am 22. 7. 2005).
Massenvorkommen dieser Art kennt
man aus mehreren Ländern: Ukraine,
Tschechien, Deutschland, Schweiz und
Österreich, hier aus Nordtirol, Salzburg,
Steiermark und Kärnten: „oft Massenauf-
treten im Winter“. Der Mechanismus die-
ser Wanderzüge ist unbekannt, eine Hypo-
these über den ökologischen Sinn wäre die
„Erschließung neuer Siedlungsräume“
(CHRISTIAN 1987, CHRISTIAN &
MEYER 1997). – Alle weiteren Beobach-
tungen solcher und ähnlicher Form wären
sehr interessant, möglichst genau zu doku-
mentieren und Proben zur Artbestimmung
in 70 % Alkohol beizuliefern. – Allerbes-
ten Dank an die Finder, den Islitzer-Wirt in
Hinterbichl mit Familie, Univ.-Prof. E.
Christian, Wien, für die Determination, die
brieflichen Hinweise sowie Beigabe von
Literatur.
Zitierte Literatur:
CHRISTIAN, E. (1977): Über massenhaft auftretende
Schneeflöhe in Ostösterreich. – Burgenl. Heimatbl.
39
:140-142.
CHRISTIAN, E. (1987): U-KL. Collembola (Spring-
schwänze). – Cat. Faunae Austriae XIIa, Österr. Akad.
Wiss. Wien, 80 pp.
CHRISTIAN, E. & E. MEYER (1997): Ein spektakulä-
res Massenauftreten von Springschwänzen in Tirol, Öster-
reich (Insecta, Collembola:
Ceratophysella sigillata
): – Ber.
nat.-med. Ver. Innsbruck
84
:315-320.
HONOMICHL, K. (1998): Biologie und Ökologie der
Insekten (bearbeitet nach JACOBS/RENNER).- 3. Aufl.,
Verl. G. Fischer: Stuttgart, Jena, Lübeck, Ulm, 678 pp
.
Alois Kofler
Massenauftreten eines Urinsekts
in Prägraten
Formen von Springschwänzen nach Schal-
ler 1958 in HONOMICHL 1998: A) Blind-
springer, B) Kurzspringer, C) Lauf-
springer, D) Kugelspringer.
Mikrofoto des Insekts.
Foto: Kofler
Die Fundstelle in Prägraten a. G.
Foto: Islitzer