Seite 6 - H_2006_07-08

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aufgeführte Scheibenschlagen dienen. In
Lienz noch bis zum I. Weltkrieg zu bestau-
nen, war es 1933 am Iselsberg gerade ab-
gekommen, in St. Veit zusammen mit
einem Fackelschwingen noch vereinzelt
üblich.
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Hier zeigt sich, dass Kultur im
Allgemeinen und Bräuche im Speziellen
nicht starre und von außen abgeschottete
Phänomene sind. Dauer und Tradition
sowie Wandel und Veränderung bilden ein
dynamisches Ineinander, welches in glei-
chem Maße formgebend wirkt. Der
Mensch erschafft sich seine Traditionen
und wird durch sie nachhaltig geprägt.
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Doch er verändert diese auch, selbst wenn
der kulturelle Wandel scheinbar nur zöger-
lich vonstatten geht. Dieses Zusammen-
spiel von Dauer und Wandel wird beson-
ders beim Krampus- und Klaubaufgehen
sichtbar. In den Ausführungen des Lehrers
Franz Hofmann liest man vom Nikolaus-
brauch in St. Justina:
„In einzelnen Fällen
tritt noch ein Platzreiniger auf; ein Mann
in gewöhnlicher Kleidung mit Maske und
Kehrbesen. Er betritt als erster das Zim-
mer und fegt mit seinem Besen den Boden
rein. Hierauf öffnet er dem im Hausgang
wartenden Nikolaus die Türe. Die Kram-
pusse bleiben im Hausgang und rasseln
mit den Ketten. (…).“
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Aus St. Jakob mel-
det Peter Taschler eine große Figurenviel-
falt:
„Am Nikolaus-Vorabend verkleiden
sich manche Burschen als Bischof, Engel,
Teufel, Braut und Bräutigam, Bauer und
Bäuerin, Lotter und Litterin (mit einer
Holzpuppe), Herr und Frau, Bajazzo und
Bajazzin und besuchen die Häuser. (…).“
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Die Nennung von Kehrgestalten sowie die
überlieferten Figuren aus dem Defereg-
gental zeigen, dass die Osttiroler Formen
des Krampus- und Klaubaufgehens we-
sentliche Züge aus den Perchtenbräuchen
einerseits und den Nikolausspielen ande-
rerseits aufsogen. Gleichzeitig weisen die
übrigen Osttiroler Antworten darauf hin,
dass der Brauch seinem langsamen Nie-
dergang entgegenblickte, dem erst durch
den in Matrei von Willi Trost entwickelten
neuen Maskentypus entgegen gewirkt
wurde.
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Es zeigt sich an diesem Beispiel,
dass nicht die starre und unveränderte
Überlieferung einen Brauch erhalten
konnte, sondern das ständige Erneuern und
Reproduzieren.
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Deshalb fußt die Vorstel-
lung von Ursprünglichkeit, Originalität
und Unveränderbarkeit von Traditionen
nicht selten auf unzureichenden Kenntnis-
sen, Halbwissen über Kultur oder überheb-
lichen Ahnungen, was beispielsweise ein
Brauch bedeute.
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So birgt eine Darstel-
lung, in welcher Bräuche lediglich nach
vermeintlich allgemein bekannten Urfor-
men bewertet werden, die Gefahr in sich,
das immer Werdende als Gewordenes zu
missverstehen,
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kulturelles Erbe damit zur
Erstarrung zu bringen.
6. Kleine Bereiche
Zwischen 1937 und 1939 wurden erste
Ergebnisse der ADV-Befragung durch 120
Verbreitungskarten veröffentlicht.
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Ab
1958 sollten weitere Karten folgen, doch
selbst durch diese Anstrengung konnte das
umfangreiche Material bei weitem nicht
vollständig ausgewertet werden. Das Fra-
gesortiment des ADV beschränkte sich
nämlich nicht auf „große“ Bereiche, wie
Arbeitsgeräte, Wohnkultur, Brauch,
Glaube oder Aberglaube, sondern berück-
sichtigte auch unscheinbar wirkende Kul-
turäußerungen. Im ersten Fragebogen von
1930 richtet sich beispielsweise Frage 31
an regionale Formen von Lock- und
Scheuchrufe für Pferde, Kühe, Schweine,
Ziegen, Hunde etc. Die für Rinder verwen-
deten, im Wortkern slawischen Rufe
„Tscho(o)ch!“
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und „Ziga!“ bzw. „Zie-
gale!“
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werden für die Gemeinden des
Iseltals und dessen Nebentäler genannt,
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während mit „Geh he!“ (Sillian), „[Tier-
name] Se!“ (Kartitsch), „Rusele!“ (St.
Jakob), „Ruschele geh her!“ (Abfalters-
bach) oder „Ritsch!“ (Innervillgraten) auch
andere Formen in Osttirol üblich waren.
Obwohl Kühe teilweise heute mit diesen
Rufen gelockt werden, sind die Locklaute
für Ziegen (meist „Lex!“, St. Jakob: „Gui-
sele!“, Virgen: „Guß!“, Kartitsch: „Gile
su!“, Iselsberg: „Gessele!“ bzw. Lienz:
„Göstele!“), Pferde (meist ein Schnalzer,
OSTTIROLER
NUMMER 7-8/2006
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HEIMATBLÄTTER
Probebefragung für Haus und Sachen: Erklärung Dreschflegel und Sense.
Zeichnung: Obbrugger
in Virgen und Matrei „Zich!“) oder
Schweine (meist „Notsch!“ oder „Zu!“)
fast nur mehr im Gedächtnis der heute
älteren Generation abrufbar. So gesehen ist
diese Auflistung nicht nur für eine sprach-
wissenschaftliche Untersuchung auf-
schlussreich, sie verweist auch auf den
Strukturwandel in der Landwirtschaft und
ist solchermaßen ein Indikator für die
immer kleiner gewordene Tiervielfalt auf
einem Bauernhof. Hier zeigt sich auch
eine weitere Schwierigkeit, die Frage-
bögen miteinander in Beziehung zu setzen.
Nicht alle Gewährspersonen ließen dem
Atlasprojekt die gleiche Sorgfalt zukom-
men. Manche Antworten scheinen unvoll-
ständig oder lückenhaft zu sein.
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Während
etwa der Abfaltersbacher Finanzbeamte
Peter Paul Bachlechner die Fragen nach
dem Vorkommen von Kinderflöten und
den bei der Herstellung gesprochenen Ver-
sen jeweils schlicht mit
„Ja“
und
„es wer-
den bestimmte Verse gesprochen“
über-
ging, notierten die Gewährspersonen aus
Lienz, Iselsberg, Burg-Vergein, Virgen,
Kals und St. Veit auch Maipfeifensprüche.
Im Defereggental beschworen die Kinder
ihre Flöte mit dem Vers:
„Floite, Floite moa de –
oder i derschnoa de
wirf die auchin aufs Hüttindach, –
fallst öher in‘n Rumpenbach,
rinnsche nach Brixen – laß di frei dawixen,
rinnsche nach Weißenstoan –
zoihinte die Mäuse hoam
Er(d)n drau, Stoan drau(f) - is
Katz‘nhäutl obn drau.
Milli, milli pack di – oder i derhhock di!
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Die überlieferten Sprüche sind sehr ähn-
lich, mitunter werden auch gleiche Formu-
lierungen verwendet. Am Iselsberg schei-
nen sich die Kinder länger Zeit für das Ab-
lösen der Rinde gelassen haben. Jedenfalls
zieht sich die warnende Worte beinhal-
tende Variante etwas in die Länge:
Floite, Floite mai‘ di –
oder i derschneid di,
wirf dir auf das Muhldoch –
follst oba im Rumpelbach,
kimmst unter die Bruckn –
fressen di die Muckn,
kimmst oi auf Leisach –
Fressen die die Leise,
kimmst ausi auf Tristach –
Kimmst unter die Drischle.
Kimmst ausi in Weißenstoan –
kimmst die Nacht um 9 hoam.
Wie wird der Voter sogn –
Die Mutter wird die schlogn
Der Voter wird die Boaner alle onogn
.“
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Viele Gewährspersonen vergaßen nicht,
auf das die Osttiroler Landschaft damals
noch prägende Trockengerüst für Getreide,
die Harpfe, hinzuweisen. Tatsächlich wur-
den die Ausführungen der Gewährsleute
sehr oft mit Skizzen und anderen Hinwei-
sen verdeutlicht. Die folgenden Zeilen über
den Aufbau der Harpfe können als kleine
Ergänzung zu meinem 2005 in der von
Rudi Ingruber herausgegebenen Gedenk-
schrift für Lois Ebner erschienenen Aufsatz
gesehen werden.
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Damals standen mir die
Materialien des ADV noch nicht zur Ver-fü-
gung bzw. waren sie mir noch nicht so be-
kannt. Aus Kals berichtet der bereits mehr-