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OSTTIROLER
NUMMER 8/2008
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HEIMATBLÄTTER
Kunstbetrieb am meisten entgegenkam.
Unter dem Titel „Herbar“ (später „multiple
Autorenschaft“) wurden zunächst verschie-
denste Niederschläge kreativer Betäti-
gung, nicht nur Zeichnungen und Ge-
mälde, auch und vor allem Objekte,
Schriftstücke und ungewöhnliche Material-
assemblagen gesammelt, sortiert und als
Rauminstallationen in mehreren Städten
Europas gezeigt: unter anderem in Brüssel
und Maastricht (1991), in Wien (1992,
1994) und in Amsterdam (1993, 1995).
Äußerlich war der Erfolg motiviert
durch die damalige Diskussion um zen-
trale gesellschafts- und kulturpolitische
Fragen, um Identitäten in einer Massen-
kultur und um den sozialen Nutzen von
Kunst. Das Engagement eines Zwillings-
paares in sozialen Projekten – die Hohen-
büchlers arbeiteten auch mit Strafgefange-
nen und Patienten einer Nervenheilanstalt
zusammen – schien beide Forderungen
kongenial zu bedienen.
Der abendländische Rationalismus be-
ruht auf der Annahme, dass Identität kei-
nen Widerspruch duldet: Jemand kann
nicht gleichzeitig jemand anderer oder gar
mehrere sein. Der entgegengesetzten
Argumentation kam damals eine weitere
Mode zu Hilfe, die künstlerische Rezep-
tion philosophischer Texte aus dem Kreis
der französischen Poststrukturalisten, die
selber zum hemmungslosen Gebrauch
pseudowissenschaftlicher Metaphern auf-
riefen
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. Das Gegenteil von Vernunft hieß
nicht Unvernunft oder gar Unsinn. Man
nannte es Poesie und glaubte, wie schon
oft in der Geschichte der Kunst, es in den
Äußerungen der unbehelligt von den
Zwängen eines verkrusteten Kunstbe-
triebs Schaffenden finden und, das war
neu, in ein „Geflecht von Gleichzeitigkei-
ten, Vielseitigkeiten“ einarbeiten zu kön-
nen, um eine „gemeinsame Öffentlichkeit
zu erreichen.“
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Man verglich das Projekt
mit einem „Gewebe, bei dem nicht mehr
wesentlich sein sollte, von wem welcher
Faden gesponnen wurde.“
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Eben.
Es drohte ein für die Künstler der Kunst-
werkstatt Lienz bestimmendes Faktum aus
dem Blick zu geraten: Die Möglichkeit,
sich täglich über mehrere Stunden dem
eigenen Schaffen zu widmen, sein Werk
konsequent zu erarbeiten und der Kritik
auszusetzen, sichert dem Autor über die
Jahre Wiedererkennbarkeit, Unverwechsel-
barkeit und – Identität.
Der krönende Abschluss der „multiplen
Autorenschaft“, wie die Gruppe ihre gemein-
same Arbeit signierte, war die Teilnahme an
der Weltkunstausstellung documenta X,
1997 in Kassel. Die Literatur, die die jüngs-
ten Strömungen des 20. Jahrhunderts aus ge-
zwungenermaßen sehr kurzer Distanz noch
bewertet, ordnet sie überwiegend den Namen
der Hohenbüchler Zwillinge zu
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.
Es scheint, dass nach diesem Zeitpunkt
die Chronik, was die überregionale Reich-
weite der Kunstwerkstatt anlangt, sieben
nicht sehr fette Jahre ausweist. Die Rück-
schau sieht sie im Lichte einer notwendigen
und entscheidenden Justierung des bisher
eingeschlagenen Kurses. Hatten die reifsten
Künstler der Werkstatt sich immer schon
der Vereinnahmung durch pauschalierende
Konstrukte entzogen, so war dieser Eigen-
Sinn jenen, die die Bestimmung ihres
künstlerischen Selbst hier künftig beginnen
wollten, erst zu erschließen. Kunst wurde
als Dienstleistungsangebot im Rahmen
unterstützten Arbeitens konzipiert und –
wenigstens der Möglichkeit nach – der
Lebenshilfe Tirol auch jenseits des Lienzer
Talbodens verfügbar gemacht. Dazu ge-
hören auch theoretische Übungen und das
Reflektieren und Besprechen von Kunst. Im
Dialog werden Entwicklungsziele verein-
bart, die den Künstler in die Lage versetzen,
selbst zu bestimmen, in welche Zusammen-
hänge er seine Arbeit einbringen will.
Den Crossover, die Interaktion mit ande-
ren Künstlern und anderen Medien, wag-
ten Elfriede Skramovsky, Thomas Baum-
gartner, Clemens Erlsbacher und Gerwin
Farcher wieder 2005 anlässlich der Tiroler
Landesausstellung „Die Zukunft der
Natur“. Das Landart-Projekt „Mauern“
wurde gemeinsam mit dem Innsbrucker
Künstler Matthias Pflug erarbeitet und in
einem Kurzfilm verewigt. Im Auftrag der
Stadt Lienz lud die Kunstwerkstatt Pflug,
Christoph Fuchs und Peter Niedertscheider
zur Gestaltung eines Beitrages zur „En-
tente Florale 2006“. In nur drei Wochen
bezeugten fast tausend Besucher eines
kurzfristig zum Ausstellungsraum adap-
tierten Geschäftslokals in der Rosengasse
ihr Interesse.
Schon im Sommer 1996 hatte die Ate-
liergemeinschaft ein neu errichtetes Ge-
bäude bezogen, das neben Werk- und
Lagerraum auch eine Galerie beherbergt.
An die 50 Ausstellungen haben hier bereits
stattgefunden, immer wieder auch von
namhaften Berufskollegen, die die Künst-
ler der Kunstwerkstatt unmittelbar an
ihrem Arbeitsplatz mit neuen Positionen
konfrontierten: Hannes Franz, Peter Kog-
ler und Elmar Trenkwalder (1997), Elmar
Peintner (1998), Walter Moroder (1998),
Regula Dettwiler (1999), Maria Bußmann
(1999 und 2005), Lois Salcher (2001), Joe
Wandaller (2002), Othmar Eder (2005),
Matthias Pflug (2006), Anton Fercher
(2007) und Kurt Baluch (2008). Der
Schnitt von 120 bis 150 Besuchern pro
Veranstaltung übertrifft in jedem Fall
jenen, den die Werkstatt zuvor ein ganzes
Jahr über verzeichnen konnte.
Zur Eröffnungsausstellung referierte
der Heidelberger Kunstpädagoge Prof.
Max Kläger, der schon im Vorjahr einen
wichtigen Beitrag in der Informations-
schrift der Lebenshilfe Osttirol veröffent-
licht hatte: „Künstlerisches Tun als beruf-
liche Chance für geistig behinderte Men-
schen“
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, ein für viele bis dahin sicher
unerhörtes Anliegen, waren doch weder
die Fachwelt noch das interessierte Publi-
kum der einhelligen Überzeugung, dass
ein künstlerischer Beruf ausgerechnet
dem Tun einer Reha-Werkstatt entspräche.
Es bleibt Klägers Verdienst, universelle
Ordnungsprinzipien und Gestaltmerkmale
Thomas Baumgartner, 1994.
Foto: Gerwin Farcher, Kunstwerkstatt Lienz
Thomas Baumgartner, 2008.
Foto: Gerwin Farcher, Kunstwerkstatt Lienz