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entsprechen und daher natürlich nicht
sichtbar sind. Die Arbeiten, mit denen
Ende der 90er-Jahre Peter Niedertscheider
seine ersten Lorbeeren verdiente
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, beruhen
auf einer Visualisierung, welche die binäre
Opposition dieses Codes als männliche
und weibliche Figuren darstellt (Abb. 1).
Durch konsequente Übung zur raschen
Niederschrift optimiert, bilden acht anein-
ander gereihte Figuren Laut- oder Satz-
zeichen, die, in der linken oberen Ecke des
Bildträgers beginnend, sich zu Kolumnen
formieren und auch in dieser Richtung zu
lesen sind.
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Jeder Code enthält Vereinbarungen, die
seinen Gebrauch regeln und ihn – zumin-
dest der Möglichkeit nach – auch erlernbar
machen. So kann man sich einen Betrach-
ter vorstellen, der den von Niedertscheiders
Acrylpinselzeichnungen gebrauchten Code
sehr gut beherrscht und die Bilder nach
dessen Regeln entziffert. Der Vorgang
schließt das simultane Erfassen des Bild-
ganzen aus und sein ästhetischer Gewinn
wäre jenem vergleichbar, der sich beim
Lesen kalligraphischer Texte einstellt.
Trotzdem sehen diese Arbeiten, die zu
einem guten Teil auf großformatige Lein-
wände gemalt sind, auch die Betrachtungs-
weise von Bildtafeln vor. Dazu ist ein
Fokuswechsel vonnöten, der aus einiger
Entfernung das Gesamtbild ins Auge zu
fassen erlaubt. Von dort wird eine Kompo-
sition wahrgenommen, die nicht mehr
durch den digitalen Code, sondern durch
analog sich abbildende Eigenschaften des
Malvorganges strukturiert ist: durch die
Unterschiede im Grauwert zum Beispiel,
die den Zeitpunkt und die Stelle anzeigen,
an denen der Künstler den fast trockenen
Pinsel erneut in die Farbe getaucht hat. Der
Grauwert entspricht der Menge an schwar-
zer Farbe, die so gesetzt ist, dass sie die
beschatteten Körperpartien zusammenfasst
und mit den ausgesparten hellen Stellen
des Grundes den Eindruck von Plastizität
oder Relief der gemalten Figürchen er-
weckt.
OSTTIROLER
NUMMER 12/2009
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HEIMATBLÄTTER
Abb. 2, „Schlafender Hermaphrodit“, Laaser Marmor, 40 x 60 cm, 2007.
Abb. 1, Acrylpinselzeichnung (Ausschnitt), 2001.
Das führt uns zu einem Unterscheidungs-
merkmal zurück, das Michelangelo in die
Auseinandersetzung zwischen Malern und
Bildhauern eingebracht hat. Ihm zufolge
hängt die Qualität der Malerei vomAusmaß
fingierter, jene der Bildhauerei aber vom
Ausmaß faktischer Plastizität („rilievo“)
ab.
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Michelangelo scheint dabei genau jenes
Medium aus seiner Argumentation auszu-
blenden, in dem sich der Bildhauer am
stärksten dem Vergleich mit dem Maler
aussetzt und das dem von ihm aufgestellten
Prüfstein sogar seinen Namen verdankt –
das Relief.
Die Reliefs
Michelangelo geht es offenbar um das
Abbild der Natur, welche mehransichtig
und rundum, also vollständig, was ihre
optischen, haptischen und kinästhetischen
Qualitäten anlangt, erfahrbar ist. Und es
geht um die malerischen bzw. die bild-
hauerischen Äquivalente dieser Erfahrung.
Gemessen an einer Vollplastik abstrahiert
das Relief vom großen Teil dieser Eigen-
schaften – weniger allerdings als die Ma-
lerei, und so müsste es in dem Maße, als es
weniger als eine allansichtig ausgearbei-
tete Skulptur anzubieten vermag, ein Mehr
imVergleich mit einem Gemälde anbieten.
Geht man aber aus von den Qualitäten der
Malerei, so bringt die Verringerung dieses
quantitativen Vorsprunges keine Annähe-
rung, sondern tendiert zu Defizit und Ver-
lust. Ein auf Null reduziertes Relief, sprich
die Einebnung aller Niveauunterschiede,
bringt das Abbild genau dort zum Ver-
schwinden, wo die Malerei ihre ureigen-
sten Vorzüge entfaltet. Im Bereich des
nicht Greifbaren, Atmosphärischen, Flüch-
tigen stößt der Bildhauer an seine Grenzen.
Obwohl Peter Niedertscheiders Be-
schäftigung mit dem Relief noch jung –
2007 war das erste Stück ausgestellt – und
daher imVerhältnis zu dem immerhin rund
zehn Jahre beanspruchenden Projekt der
Acrylpinselzeichnungen in einer noch
leicht überschaubaren Anzahl von Werken
präsent ist, kommt ihr eine Schlüsselfunk-
tion zumVerständnis seiner künstlerischen
Bemühungen zu. Die bislang entstandenen
Bilder sind alle in Laaser Marmor gearbei-
tet und lassen sich in zwei Gruppen eintei-
len. Bei den einen handelt es sich um Ein-
blicke in stark frequentierte Räume be-
rühmter Museen, bei den anderen um nicht
minder bevölkerte Strände. Das gemein-
same Thema ist leicht zu erkennen: Beiden
ist es um die künstlerische Verwertung von
Schauplätzen heutiger Massenkultur und
um die Regie von Menschenansammlun-
gen in (Bild-)Räumen zu tun. Dabei ist das
Personal bis zu einem gewissen Grad aus-
tauschbar und äußerlich allenfalls in der
Kleidung zu unterscheiden. Hüllenloses
Posieren ist im Museum nur den Exponaten
– der Venus von Milo und Michelangelos
Sklaven – gestattet.
Der „Schlafende Hermaphrodit“ (Abb.
2) aber könnte ebenso gut, wie er sich im
Louvre den umstehenden Touristen darbie-
tet, auf seiner Luftmatratze ein Sonnenbad
nehmen. Das Relief appelliert an die Ken-
nerschaft des Betrachters, der im Wissen
um die Doppelnatur des Motivs auch des-
sen abgewandte Ansicht zu lesen vermag,