Seite 1 - H_2009_12

Basic HTML-Version

16. Jahrhunderts dem
Begriff der „Anstren-
gung“ ein Bedeutungs-
wandel in Richtung
„Schwierigkeit“ wider-
fuhr, erhob sich die
Frage, wer denn die
größeren Schwierig-
keiten zu bewältigen
hätte.
4
Erstmals waren
Künstler beider Par-
teien veranlasst, Über-
legungen zu den spezi-
fischen Aufgaben ihrer
Metiers anzustellen.
Es versteht sich von
selbst, dass unter sol-
chen Voraussetzungen
Gemälde und Statuen
auch von sich selber
und vom Können ihrer
Schöpfer zu sprechen
beginnen. Dieser An-
satz hat bis in die Ge-
genwart nichts von sei-
ner Aktualität einge-
büßt, im Gegenteil: Die
Möglichkeiten der Digi-
talisierung haben die
zum Einsatz gelangen-
den Mittel in unvorher-
sehbarer Weise verviel-
facht, und der Künstler
ist heute mehr denn je
aufgerufen, im Wett-
streit der Medien seinen Platz zu behaup-
ten. Es scheint daher angebracht, das Werk
Peter Niedertscheiders trotz oder gerade
wegen seines Facettenreichtums auch als
eine Analyse dieser Bedingungen zu ver-
stehen.
Die Acrylpinselzeichnungen
Digitalisieren heißt Daten, Botschaften,
Sachverhalte durch ein System zählbarer
Einheiten auszudrücken. So etwa übersetzt
der Computer den Zeichenvorrat der Tasta-
tur in Kombinationen von jeweils acht Bi-
närzeichen, in Folgen von Nullen und Ein-
sen, die ihrerseits elektrischen Impulsen
mehr alle zur ersten Garnitur ihrer Zunft
rechnen würde – die Verwandlung der
Statue in ein Wesen aus Fleisch und Blut
zumVorwand, Überlegenheit gegenüber den
Bildhauern zu demonstrieren.
3
Die Debatte
um die Vormachtstellung von Malerei oder
Bildhauerei aber wurde zunächst weniger
mit künstlerischen als vielmehr mit sozio-
logischen Argumenten geführt. Leonardo
hob die Malerei unter Berufung auf deren
geistige Anstrengung in den Rang einer
Wissenschaft, um zugleich die Bildhauerei
mit dem Hinweis auf deren körperliche
Anstrengung auf das Niveau eines Hand-
werks zu stufen. Als um die Mitte des
Der römische Dich-
ter Ovid erzählt in den
„Metamorphosen“ von
Pygmalion, der, ange-
widert von der Laster-
haftigkeit seiner Zeit-
genossinnen,
eine
Jungfrau aus Elfenbein
bildet. Sie gelingt ihm
so gut, dass er, der bis-
lang in absoluter Ent-
haltsamkeit lebte, sich
in das Standbild ver-
liebt:
„Und er küsst sie
und glaubt sich ge-
küsst, er plaudert,
umarmt sie, meint mit
den Fingern die Weiche
des Leibes zu spüren
und fürchtet, dass
wenn die Glieder er
drücke, sie bläuliche
Flecken entstellen.“
1
Die Verfärbung deutet
also auf Lebendigkeit
hin, reinweißes Elfen-
bein aber ist das mate-
rielle Symbol für Un-
berührtheit und Keusch-
heit, mit denen die
Natur ihre mensch-
lichen Geschöpfe nicht
auszustatten vermag,
da sie ihnen auch Lei-
denschaften mit auf
den Lebensweg gibt. Pygmalions Leiden-
schaft beseelt die tote Materie nur schein-
bar und wird erst erwidert, als auf sein Bit-
ten die Liebesgöttin dem Bildwerk Leben
einhaucht. Durch das Erröten der Jungfrau
unter Pygmalions Küssen wird die Meta-
morphose zuletzt noch koloristisch be-
stätigt.
2
In der Neuzeit wurde die Geschichte
auch als ein Gleichnis für die Unfähigkeit
der Bildhauerei ausgelegt, lebendige Krea-
turen zu schaffen oder zumindest die Lei-
denschaft des Rezipienten durch optische
Stimuli zu entfachen. Des Öfteren nahmen
Maler – die man heute vielleicht nicht
NUMMER 12/2009
77. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Rudolf Ingruber
Der Marmor ist die Botschaft
Peter Niedertscheiders Arbeit im Licht der künstlerischen Medien
Kauernde, Laaser Marmor, 2008.
Alle Fotos: Peter Niedertscheider