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OSTTIROLER
NUMMER 12/2009
3
HEIMATBLÄTTER
was gewöhnlich einer Umschreitung der
vollplastisch ausgeführten Skulptur und
damit dem innerbildlichen Publikum vor-
behalten bliebe. Letzteres scheint sich für
das entscheidende Detail jedoch überhaupt
nicht zu interessieren. Durch das klug aus-
tarierte Verhältnis zwischen Zeigen und
Verbergen, Sehen und Wissen, erweist das
Relief, dessen Rezeption, ähnlich jener
eines Gemäldes, nur von einem vorher be-
stimmten Punkt aus stattfinden kann, sich
der Allansicht der antiken Skulptur als
mindestens ebenbürtig. Was hier simultan
ins Bild gesetzt ist, hat Niedertscheider
schon 2006 im zeitlichen Ablauf einer
Videoarbeit entwickelt. Mit dem starren
Auge der Kamera verfolgt er darin die Be-
sucher des Florentiner Dommuseums, die
sich bei der Betrachtung von Michelange-
los Pietà selbst unbeobachtet glauben
(Abb. 3).
Der Standort des Betrachters wird vom
Schnittpunkt der senkrecht zu seinem Ge-
sichtsfeld in die Bildtiefe führenden, im
besprochenen Beispiel vor allem an der
Umzäunung ausgewiesenen Linien mar-
kiert. In den Strandbildern entfallen diese
Raum suggerierenden Koordinaten weit-
gehend, und so muss diese zweite Gruppe
von Reliefs, die sich von den Museumsbil-
dern durch ihr kleineres Format und vor
allem durch die wesentlich geringere
Stärke der Tafeln unterscheidet, die Illu-
sion von Volumen und räumlicher Tiefe
mit anderen Mitteln erzeugen (Abb. 4).
Die Motive im Vordergrund sind noch re-
lativ differenziert, und manchmal führt
eine Rückenfigur den Betrachter mit in das
Bild. Je weiter man in die Tiefe gelangt,
desto kleiner werden nicht nur die Men-
schen, es schrumpfen auch die Intervalle
zwischen ihnen derart zusammen, dass es
unmöglich wird, Konturen oder gar Details
auszumachen – auch deshalb, weil ihre
Größe sich der des Kristalls nähert und
damit, nachrichtentechnisch gesprochen,
innerhalb des Eigenrauschens des Infor-
mationsträgers liegt. Sie sind den Andeu-
tungen eines virtuos geführten Werkzeuges
nur noch zu assoziieren.
Ein schmaler Küstenstreifen verschwin-
det am Horizont schließlich in jener imagi-
nären Zone, wo sich Himmel und Erde be-
rühren, Gewölk und Gewässer, jene beiden
Aggregatzustände, die im Wettstreit der
Künste von jeher einen Heimsieg der
Maler bedeuten. Niedertscheider hat auch
für dieses Problem eine originelle und
überzeugende Lösung gefunden: Wolken
und Spiegelungen im Wasser sind durch
Aufrauen der ursprünglich glatt polierten
Fliese gebildet und damit die flüchtigsten
und entferntesten Phänomene an den erha-
bensten Stellen des Reliefs festgemacht.
Die Unterscheidung zwischen Grund und
Motiv hängt ab von den durch einen be-
stimmten Einfallswinkel des Lichtes her-
vorgerufenen Helldunkelkontrasten, wäh-
rend etwa eine frontale Beleuchtung jede
Reliefstruktur auslöscht.
Wem immer sich der Vergleich mit den
Fotografien von Thomas Struth oder
Andreas Gursky aufgedrängt hat, wird nun
klar, dass die Marmortafel andere Bedin-
gungen stellt als die lichtempfindliche
Platte, und dass ähnlich erscheinende
Themen vollkommen verschieden erörtert
werden können. Den „Schwierigkeiten“
der Fotografie hält Niedertscheider die
Schwierigkeiten der Marmorbildhauerei
entgegen. Dabei ist die fotografische Qua-
lität seiner Bildvorlagen, die überwiegend
dem Fundus noch nicht durch die Maschen
des weltweiten Netzes gefallener Alltäg-
lichkeiten entstammen, eher gering. Dass
und wie eines der jüngsten und unbestän-
digsten Kulturphänomene in einem durch
Jahrtausende alte Tradition ausgezeichne-
ten Medium umgesetzt und gespeichert
wird, macht nicht zum Geringsten den
Reiz dieser Arbeiten aus.
Bild, Zeit und Raum
Die materielle Verbindung von Grund
und Motiv erlaubt dem Relief, Figuren in
eine homogene Umgebung zu stellen. Die
Freiplastik steht ihrer Umgebung, die ja
Abb. 3, „Pietà“, Video-Still, 2004.
Abb. 4, „Strand“, Laaser Marmor, 30,5 x 30,5 cm, 2009.
Abb. 5, „Bildzeitraum 3“, Museum Schloss Bruck, 2009.