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Heimat - Jitka Staffler

März 2016

Heimat

In der Serie „Heimat“ berichten wir über Zugezogene, die in Tristach Heimat gefunden haben.

Jitka (Judith) Staffler, geb. Ditrychova

Die Geschichte meiner Familie lässt

sich bis in das 17. Jahrhundert zurück-

verfolgen. Einer meiner Ahnen aus Loth-

ringen kam in den politischen Wirren je-

ner Zeit mit Napoleon nach Tschechien.

Er wurde in Malotice sesshaft.

Mein Großvater väterlicherseits war

Chronist in diesem Dorf. Er hat die Fa-

milien- und die Dorfgeschichte penibel

aufgezeichnet. Sie kam 2009 in das

neu gegründete Museum von Malotice.

Mein Großvater mütterlicherseits

war ein Sprachgenie. Er beherrschte

Deutsch, Tschechisch und Englisch per-

fekt in Wort, Schrift und Stenographie.

Ich wurde am 9.12.1972 als ein-

ziges Kind der Jitka und des Jaros-

lav Ditrych in der Weingartenstraße in

Prag geboren. Mein Vater war Maschi-

nenbauingenieur. Meine Mutter war in

einem staatlichen Betrieb Abteilungs-

leiterin für Qualitätskontrolle von Spiel-

sachen und Sportartikeln. Nach der

Wende machte sie sich mit Bohemian

(böhmisches) Glass und mundgeblase-

nen Weihnachtskugeln selbständig.

Nach zwei Jahren Volksschule kam

ich in die Sprachschule. Dafür war aus-

reichend Begabung notwendig. Wer

einen Dreier im Zeugnis hatte, musste

wieder in die Volksschule zurück. In der

Sprachschule gab es dreimal in der Wo-

che Deutschstunden und täglich Rus-

sischunterricht. Als begleitendes Projekt

besuchten wir die Städte Dresden, Ber-

lin und Leipzig.

Es war Pflicht, mit Brieffreunden in

russischer Sprache zu korrespondie-

ren. Zum Abschluss reiste die

Klasse nach Moskau. Drei

Tage und Nächte fuh-

ren wir durch endlose

Wälder. Es war kein

Einblick in die übri-

ge Landschaft oder

in Siedlungen mög-

lich. In Moskau waren

wir aus Sicherheits-

gründen in einer Schu-

le unter Polizeiaufsicht

untergebracht. Wir durften

ausgesuchte Sehenswürdigkeiten

besuchen. Auf mich Vierzehnjährige

machten das Mausoleum von Lenin

und der Kreml den größten Eindruck.

Von der Größe des Roten Platzes war

ich enttäuscht. Natürlich besuchten wir

auch das berühmte Kaufhaus GUM. An

der Kasse musste man sich einen Bon

über einen bestimmten Betrag kaufen.

Man war sich aber nicht sicher, ob die

Sachen, die man kaufen wollte, auch

vorrätig waren. Ich hatte Glück und

fand in der Kosmetikabteilung das Ge-

wünschte.

Nach der Grundschule besuchte ich

die Handelsakademie in Resslova. Es

ist dies die älteste HAK Mitteleuropas.

Während der Schulzeit wurden wir zu

verschiedenen Arbeiten herangezogen.

In der sozialistischen Planwirtschaft

nannte sich die kleinste Ar-

beitsgruppe „Brigade“. Es

gab sie in allen Bereichen

der Wirtschaft, auch in

der Landwirtschaft.

Drei Wochen lang war

man angehalten, je

nach Bedarf bei einer

Brigade mitzuarbeiten.

Dafür gab es Essen und

ein gutes Taschengeld.

Es gab zum Beispiel eine

Erdbeerbrigade, eine Kartof-

felbrigade, eine Hopfenbrigade usw.

Nach der Matura studierte ich an

der 1. Landwirtschaftlichen Universität

in Prag und schloss mit der Promotion

zum Ingenieur. Während des Studiums

arbeitete ich im Lokal „U KALICHA“. Es

war seinerzeit durch die Verfilmung der

literarischen Figur des Soldaten Schwejk

berühmt geworden. Ich verdiente dort

in vier bis fünf Stunden täglich mehr als

mein Vater im Monat.

Judith mit Mama

Bei der Hopfenbrigade

Bei der Matura