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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
67. Jahrgang –– Nummer 2
Im Alter von 16 Jahren (1954) hatte Ge-
rold Foidl eine Erstfassung seines Romans
„Der Richtsaal“ in Manuskriptform er-
stellt. Der Vater verbrannte sie. Daraufhin
schrieb Foidl rund 20 Jahre lang
„für die
Schublade“.
1978 erschien im Walter
Verlag/Olden der Roman „Der Richtsaal.
Ein Hergang“.
1981 erschien der Roman im Fischer-
Taschenbuchverlag. 1998 wurde das
Werk in der Reihe Skarabaeus der Edition
Löwenzahl von Frau Dorothea Macheiner
neu herausgegeben. Die Neuausgabe ent-
hält nun auch den seinerzeit „unterdrück-
ten“ dritten Teil des Romans.
Was die gattungsmäßige Zuordnung be-
trifft, wird man das Werk mit einigem
Recht einen Entwicklungsroman (aller-
dings mit negativer Entwicklungszielrich-
tung), aber auch einen Zeitroman nennen
dürfen. Bedenkt man, daß bereits 1954 eine
Manuskriptfassung vorlag, so darf man den
Roman zu den sehr frühen Werken der
sogenannten „Neuen Heimatliteratur“
zählen. Die Heimat – in diesem Falle Lienz
in Osttirol und sein Milieu – wird ihrer Kli-
schees völlig entzaubert vorgestellt. Ver-
wandte Sichtweisen der „Heimat“ begeg-
nen uns bei Thomas Bernhard (
„Die Ursa-
che“, „Der Keller“
), bei Franz Innerhofer
(
„Schöne Tage“, „Schattseite“
), bei H. C.
Artmann (
„Mid ana schwoazn Dintn“
) u. a.
Ist man hinsichtlich der Maßstäbe eini-
germaßen risikofreudig, darf man den letzten
Abschnitt des Romans, den Psychiatrieteil,
ohne weiteres in eine methodische Reihe mit
den
„Reportagen“
eines Günter Wallraff
stellen. Motivisch leidet Foidl – früher als
Felix Mitterer – an eben den selben „Zeit-
phänomenen“ (
„Sibirien“, „Kein schöner
Land“, „Kein Platz für Idioten“
usw.). Die
Lienz-Sicht Foidls findet auch Anklänge bei
F. X. Kroetz (
„Dolomitenstadt Lienz“
), ent-
fernt auch bei Christoph Zanon (
„Schatten-
kampf“
), Hans Salcher (Lyrik) und den
Autoren der
„Lienzer Wandzeitung“
.
G. Foidls Text aus dem Nachlaß mit
dem Titel
„Scheinbare Nähe“
ist mittler-
weile vergriffen.
Die Nachlaßverwalterin, Frau D.
Macheiner, schrieb 1985 ein Hörspiel über
G. Foidl. Es trägt den Titel
„Grüner Vogel
Sehnsucht“,
wurde im Landesstudio Stei-
ermark aufgenommen und im ORF
sowie im SFB gesendet.
„Gelobt sei, was uns ,hart‘
macht“
„Stubenrein“
nennt man eine Kreatur, die
soweit domestiziert ist, daß sie die Stube –
im städtischen Milieu ist es wohl das Wohn-
zimmer –
„rein“
hält, nicht durch Körper-
absonderungen versaut. Domestikations-
verweigerern wird obgenannte Räumlich-
keit jedoch sehr leicht zum
„Richtsaal“.
So ähnlich ergeht es Zeit seines Lebens
dem Ich-Erzähler, dem jungen Gid Flora
im Roman
„Der Richtsaal“
des in Lienz
geborenen Autors Gerold Foidl.
Gid Flora verweigert konsequent jeg-
liche Homodomestikation. Er kann und
will nicht im Sinne jener Sippe von Pro-
vinzatriden, in die ein unseliges Schicksal
ihn hineinverflucht hat,
„hart“
werden.
Eine Seelenwunde – aufgerissen durch
das Entsetzen, das den Siebenjährigen an-
gesichts des Verbrechens an den Kosaken
im Lager Peggetz bei Lienz befällt –
schließt sich das ganze Leben nicht mehr.
Sie vernarbt nicht, und was ist denn unse-
re sogenannte gesunde Härte dem Leben
gegenüber anderes, als unsere auf und auf
hartvernarbte Seele? Gid ist zur Existenz
des Seelenbluters verurteilt. Der erlebte
Schrecken bleibt aber entscheidende Jahre
hindurch
„unaussprechlich“.
Nicht einmal
seiner Mutter gegenüber, mit der er als
dem einzigen Menschen über alles reden
kann, offenbart er sich in dieser Sache.
„Nur über ein Erlebnis habe ich nie mit
ihr gesprochen. Sie wußte nichts davon,
und mir verschlug es bei jedem Anlauf, es
ihr anzuvertrauen, die Sprache. (…)
Während ich ratlos meinem eigenen Ver-
langen gegenüberstand, mich endlich mit
jemandem darüber auszusprechen, spürte
ich, wie mich dieses Erlebnis immer mehr
veränderte. Mit dem Kosakenmassaker be-
gann mein Weg in die Einsamkeit“.
(G.
Foidl.
Der Richtsaal,
S. 38)
Von Anfang an betrachtet er das Ge-
sehene als
„Sein Problem“
– ganz im
Unterschied zu seiner Großmutter.
„Was
hat das mit uns zu tun?“
ist ihre Reaktion
auf die Frage, ob sie sich an die Kosaken
im Barackenlager erinnern könne. Er, Gid,
kann nach all dem Geschehenen nicht da-
stehen wie die Briten, so,
„als wäre nichts
geschehen“.
In einer Familienatmosphäre, die der
Erzähler als
„Treibhausatmosphäre“,
als
„stickiges Klima“
empfindet,
„in dem kein
Platz für Menschen war, die sich wie
Vögel nach Freiheit sehnen“,
in einer
Atmosphäre,
„in der man stets Zwängen
ausgeliefert war, weil allein die über-
mächtige Großmutter stets bestimmte, was
zu geschehen, was zu unterbleiben habe“,
wird solche Betroffenheit unter gar keinen
Umständen geduldet, muß dieses Trauma
des Siebenjährigen tumorös werden.
Diese Großmutter ist es auch, die die
Zwangsabtreibung an der Mutter des Ich-
Erzählers veranlaßt. Diese äußerst grausame
„Kindwegmachung“
– Ausgeburt einer
regelrechten Sippenverschwörung zur Ret-
tung der
„Familienehre“
und durchgeführt
vom Arzt-Onkel Elmar unter Zuhilfenahme
eines Eßlöffels und mit tatkräftigster physi-
scher Unterstützung durch die Anstifter-
großmutter – ist der zweite Fall unter dem
Lebenskreuz des kleinen Gid.
Der dritte besteht in der Einweisung des
epileptischen Zwölfjährigen in die als
nackte Hölle erfahrene Nervenheilanstalt,
welche durch die Großmutter und den Arzt-
onkel Elmar veranlaßt wird, weil die Sipp-
schaft und besonders Arzt Elmar befürchten
müssen, daß infolge der sturen
„Verbohrt-
heit“
des Kleinen die Abtreibungsangele-
genheit gerichtsanhängig wird, womit eine
entscheidende Weiche in Richtung des ge-
sellschaftlichen Aufstiegs der Familie ver-
stellt wäre. Gid begreift diese Einweisung
auch zeitlebens als Abschiebung, Entsor-
gung eines die
„Familienehre“
bedrohen-
den lästigen, unbekehrbaren Störenfrieds.
Gerold Foidls literarisches Werk
Titelseite der Neuausgabe von Gerold
Foidls Roman „Der Richtsaal“ in der
Edition Löwenzahn (Skarabaeus), Inns-
bruck 1998.
„Die Heimat – ein Richtsaal“
Diese drei entscheidenden Verwundun-
gen und die unzähligen, an einer
sensiblen Kind-Seele unternommenen
Verbiegungs-, Streckungs- und Bre-
chungsversuche hinterlassen schließlich ein
sprödes, eitriges, aus vielen Wunden blu-
tendes Seelen-Etwas, das nun in einer be-
drückenden Rückschau – zum Selbstmord
entschlossen – Abrechnung hält mit denen,
die man gewöhnlich die
„Seinen“
nennt.
Der tiefere Sinn dieses Suizids liegt in der
Absicht begründet, dem versammelten Be-
stiarium, allen voran der Großmutter, sein
Ganz-und-gar-nicht-einverstanden-Sein mit
der vorgefundenen Welt ein für allemal
klar zu machen. Aus diesem Grunde – und
nur aus diesem – hat er die Reise von
Wien, wo er seine Tätigkeit als Finanz-
beamter hingeschmissen hat, nach Lienz
unternommen, nach einem Lienz, das so
gar nicht in unseren idyllisch präformierten
Erwartungshorizont passen will. Lienz ist
im Roman als eine menschliche Hölle be-
schrieben und das von so vielen Behag-
lichkeitsvorstellungen begleitete Wohn-
zimmer als
„Der Richtsaal“.
Dieser Richtsaal – Schauplatz eines der
drei haarsträubenden Schlüsselereignisse
des Romans – ist gleichsam Symbol und
„Tatort“ von Menschen, deren Mensch-
lichkeit unübersehbar – wie Foidl zu sehen
meint – Schaden gelitten hat. Überlieferte
Werthaltungen sind durch prägende Er-
fahrungen der „Moderne“ (Faschismus,
Nationalsozialismus, Kriegs- und Nach-
kriegszeiten usw.) brüchig geworden,
teilweise gänzlich verschwunden. In
wichtigen Punkten – so stellt es jedenfalls
Foidl in seinem Roman dar – ist die so ent-
standene Lücke durch brutale, sozialdar-
winistische, in letzter Konsequenz „un-
menschliche“ Inhalte geschlossen worden.
Somit zeigt sich uns der
„Richtsaal“
als
das Trümmerfeld der sogenannten „bo-
denständigen“ (Klein)bürgermoral. Foidl