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Welche Hauptgründe gibt es
für Selbstmord?
Pycha:
„Modernste Studien
sagen uns, dass die Hoffnungslo-
sigkeit, der schwere seelische
Schmerz und eine starke Impul-
sivität, also der Druck etwas zu
tun statt geduldig zu warten, die
gefährlichsten Anteile sind, die
zu Selbsttötungen führen können
– vor allem, wenn alle drei vor-
handen sind.“
Dr. Pycha, in wie vielen Fäl-
len könnte man den Selbstmord
eines Menschen verhindern?
Pycha:
„Theoretisch könnte
man wohl jede Selbsttötung ver-
hindern. Praktisch weiß man, dass
60 bis 90 % der Suizidopfer vor-
her Hinweise auf ihr Vorhaben ge-
geben haben, die halt nicht beach-
tet worden sind, vielleicht auch
nicht beachtet werden konnten, im
Stress oder in der Eile…“
Warum nehmen sich manche
Menschen das Leben ohne vor-
her zu „warnen“ ... auch wenn
man weiß, dass man dadurch
enorm viel Schmerz bei den
Hinterbliebenen auslöst?
Pycha:
„Betroffene sind oft
mit ihrem Ringen und dem
schwierigen Entschluss so be-
genau nach ihrem Befinden zu
befragen. Auch wenn die Ant-
worten oft sehr unbequem aus-
fallen.“
Warum schaffen es Betrof-
fene nicht mehr, zumindest
ihren minderjährigen Kindern
zuliebe, am Leben zu bleiben?
Wie hoch ist der Leidensdruck,
dass man sich im Grunde der
totalen Ungewissheit ausliefert
Wie können die Hinterbliebe-
nen den Selbstmord eines ge-
liebten Menschen verarbeiten?
Pycha:
„Das Wichtigste dafür
ist sehr viel Zeit. Der Prozess
kann nur allmählich gelingen,
meist nach einem harten Ringen
und Hadern mit dem Verstorbe-
nen. Oft wird sein Tod auch als
Feigheit oder billige Flucht er-
lebt. Diese Empfindungen aus-
zusprechen, diese Anteile zu be-
nennen, hilft. Dafür braucht man
aufmerksame Zuhörer. Allein ist
man also weniger gut gerüstet als
in einer hilfreichen Gemein-
schaft. Man muss die Chance
haben, das Thema immer und
immer wieder aufzurollen, dann
ändert es sich allmählich. Auch
eine Psychotherapie kann da
sehr hilfreich sein.“
Was können die Hinterbliebe-
nen tun, wenn sie sich den
Grund für einen Suizid nicht er-
klären können?
Pycha:
„Am Anfang dieses
Prozesses geht es immer um die
Gründe und Zusammenhänge,
die meist im Dunkeln bleiben.
Am Ende wird hingegen Unbe-
greifliches einfach akzeptiert,
weil es zu den menschlichen Ge-
hängigkeitserkrankungen, Famili-
enberatungsstellen, privat arbei-
tende Psychiater und Psychologen.
Aber auch Selbsthilfegruppen und
der Verein Lichtung (das ist die
Selbsthilfeorganisation der Be-
troffenen, Tel. 0039/0474/530266)
stehen zur Verfügung. Die Tele-
fonseelsorge kümmert sich ano-
nym um Menschen in Krisen (Tel.
840 000481), Young and direct um
Jugendliche (Tel. 0039/0471/
970950). Je vielseitiger und breiter
gestreut die Hilfe sein kann, desto
wirkungsvoller ist sie.“
Wie sehr hängt der Mensch
im Normalfall an seinem
Leben?
Pycha:
„Im Durchschnitt lebt
jeder Mensch gern erfüllt, gebor-
gen, respektiert, geliebt und
sinnvoll. Was besonders in der
hypermodernen Gesellschaft von
morgen eine Rolle spielen wird:
Er lebt auch möglichst intensiv.
Das ist eine zweischneidige
Sache. Alte griechische und rö-
mische Philosophen haben an-
dere Antworten darauf gegeben,
wie man glücklich werden kann.
Aristoteles hat das Maßhalten für
die oberste aller Tugenden ge-
halten. Und die stoischen Philo-
schäftigt, dass sie auf andere gar
nicht mehr achten und den
Schmerz nahestehender Perso-
nen nicht berücksichtigen. Frei-
lich wäre da eine andere Haltung
hilfreich: den Schmerz und die
Gefahr laut hinauszuschreien,
damit jeder etwas merkt. Aber
die meisten von uns sind ganz
gegenteilig erzogen. Sie haben
gelernt, möglichst nicht unange-
nehm aufzufallen. Das soll und
muss sich ändern.“
Fällt die Entscheidung, Suizid
zu begehen, scheint es demjeni-
gen plötzlich besser zu gehen. Er
„blüht“ geradezu auf... Könnte
man in dieser Phase den Selbst-
mord noch aufhalten oder lässt
sich dieser Mensch nicht mehr
davon abbringen?
Pycha:
„Selbstverständlich
kann man Menschen, die er-
leichtert wirken, weil ihr schwe-
rer innerer Kampf ums Leben
oder Sterben ausgekämpft ist,
trotzdem sehr gut und leicht ret-
ten. Allerdings müssen wir Hel-
fer sie gezielt auf ihre Gefühls-
lage und die Zusammenhänge
ansprechen, statt uns nur erleich-
tert zurückzulehnen. Es ist über-
haupt ein mitmenschlicher
Grundsatz, leidende Menschen
und sich radikal von allem
trennt?
Pycha:
„Kinder sind die le-
bensrettendste Bindung, die wir
haben. Sie sind der beste Grund,
am Leben zu bleiben, auch in
größten Schwierigkeiten. Weitere
sehr gut schützende Bindungen
sind jene an die Eltern und an die
Partner. Trotzdem gibt es leider
Situationen, in denen all dieser
emotionale und psychische
Schutz nicht genügt. Manchmal
überwiegt da die Todessehn-
sucht, der Wunsch, das Leiden zu
beenden und Frieden zu haben.
Das Sterben selbst hingegen, mit
seinen Schmerzen, macht Angst
und schützt das Leben.“
Wann sollte man die „Bemü-
hungen“, den Menschen am
Leben zu erhalten, aufgeben
und den Betroffenen gehen las-
sen?
Pycha:
„Ich würde meinen,
nie, solange der Betroffene am
Leben ist. Hoffnung wächst auch
noch im finstersten Winkel. Be-
reits verstorbene Opfer hingegen
kehren alles um, da ist es dann
nötig, ihre Entscheidung zu res-
pektieren und sie gehen zu las-
sen.“
heimnissen zählt, und weil man
gelernt hat, ein höheres Maß an
Unsicherheit zu akzeptieren.“
Wie wird man mit dem
schlechten Gewissen fertig, das
sich meist einstellt?
Pycha:
„Das schlechte Gewis-
sen ist so etwas wie eine Verar-
beitungsphase: ‚Lieber als dass
ich ein Ereignis für unerklärlich
halte, gebe ich mir selbst ganz
oder teilweise die Schuld daran.‘
Dadurch entsteht mindestens
etwas Gewissheit – wenngleich
die falsche. Im Laufe der Bear-
beitung des Ereignisses wird
klar, dass man den drängenden
Willen eines anderen Menschen
schwer unterdrücken hätte kön-
nen, und die eigenen ‚Verant-
wortungsanteile’ werden klei-
ner.“
Wohin können sich Men-
schen wenden, die an Selbst-
mord denken?
Pycha:
„Wir haben zum Glück
ein ganzes Helfernetz. Die aller-
ersten Anlaufstellen sind die Haus-
ärzte und die Zentren psychischer
Gesundheit
(Bruneck:
Tel.
0039/0474/586340 oder 586342,
in Osttirol: Psychiatrische Ambu-
lanzen), weiters die Psychologi-
schen Dienste, die Dienste für Ab-
sophen, von Epiktet über Seneca
zu Marc Aurel, haben sich um
Unerschütterlichkeit bemüht, als
höchstes Ziel der menschlichen
Existenz. Etwas mehr davon
können wir uns heute durchaus
wünschen.“
Warum nahmen sich viele
Menschen, die Furchtbares mit-
gemacht haben (z. B. im KZ),
nicht das Leben?
Pycha:
„Die Hoffnung ist eine
alles überflutende Kraft, die
sogar oft paradox dort stärker
wird, wo äußerlich keine Er-
folgsaussichten mehr bestehen.
Ich erlebe das manchmal bei
Menschen, die Krebsleiden
haben und täglich optimistischer
am Leben hängen. Noch viel
öfter aber erlebe ich, dass Men-
schen, die aus schwerstem seeli-
schem Leid wieder aufgetaucht
sind, nur dankbar dafür sind,
dass sie in viel größerer Ruhe
und mit weniger Angst leben
können. Sie richten sich stärker
auf Wesentliches aus, genießen
den Augenblick bewusster, üben
Achtsamkeit mit sich selbst. Das
ist dann hohe Lebenskunst trotz
oder gerade wegen mitgemach-
ten seelischen Leidens.“
Interview: Martina Holzer
SUIZID
PUSTERTALER VOLLTREFFER
JÄNNER/FEBER 2015
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Wenn das „Ertragen“ zuviel wird
Suizide sind im Pustertal leider keine Seltenheit. Vor zehn Jahren war das Pustertal der Bezirk mit der
höchsten Suizidrate Südtirols. Seither hat sich viel Positives getan, durch Aufmerksamkeit der Bevöl-
kerung und höheren Ausbildungsstand der Fachleute. Eine Senkung der Suizide konnte erreicht wer-
den. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Dr. Roger Pycha, Primar der Psychiatrie Bruneck, griff das
schwierige Thema mit dem „PVT“ auf.
Dr. Roger Pycha, Primar der
Psychiatrie Bruneck.