Seite 1 - H_2014_09_10

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Das Wetter war
prachtvoll, die Berg-
steigersaison hatte viel-
versprechend begonnen,
viele Sommerfrischler
waren bereits angekom-
men, die meisten Gast-
häuser und Hotels in
Lienz, dem Iseltal und
im Pustertal waren gut
belegt bis ausgebucht.
Ein Sonntag, wie er
schöner nicht sein hätte
können. Doch er sollte
nicht so enden, wie er
begonnen hatte, auch
wenn noch niemand
ahnte, dass bald die
Welt nicht mehr so sein
sollte, wie sie war.
Schon am Montag er-
schienen Sonderaus-
gaben der deutschfrei-
heitlichen „Lienzer Zei-
tung“ und der konserva-
tiven „Lienzer Nach-
richten“ und berichteten
über das Attentat von Sarajewo und die Er-
mordung des österreichisch-ungarischen
Thronfolgerpaares.
Am Freitag, 3. Juli 1914, erinnerte die
halbwöchentlich erscheinende „Lienzer
Zeitung“ an den folgenschweren Sonntag
und schilderte, wie es weiterging:
„Die
ersten nicht kontrollierbaren Gerüchte
über die entsetzliche Bluttat in Sarajewo
kamen am Sonntag Nachmittag nach
Lienz. Sie nahmen immer bestimmtere For-
men an, bis von der Fahrt zurückkom-
mende Eisenbahner die Bestätigung
brachten. In den Nachtstunden erbrachten
hier einlangende Telegramme die fürch-
terliche Wahrheit, welche tiefste Empörung
und Trauer auslösten. Am Morgen des
Montag verschwand der anlässlich des
Gauturnfestes angelegte Flaggenschmuck
der Häuser und von den öffentlichen Ge-
bäuden und mehreren Privathäusern weh-
ten die Trauerfahnen. Der Erzherzog-
Thronfolger war uns Lienzern keine unbe-
kannte Persönlichkeit. Bei seiner seiner-
zeitigen Anwesenheit am Prager Wildsee,
wo er einige Zeit mit Familie auf Sommer-
frische weilte, kam er des öfteren nach
Lienz, um nach Antiquitäten Umschau zu
halten, von welchen er auch viele käuflich
erwarb. Sehr lobend sprach sich der nun-
mehr Verblichene über die Schönheiten un-
serer Gegend und des Pustertales aus. Der
am Dienstag Vormittag zu einer außeror-
dentlichen Sitzung einberufene Gemeinde-
Ausschuß der Stadt Lienz nahm eine Ent-
schließung an, die die tiefste Trauer und
Empörung über das ruchlose Attentat aus-
drückte und auch an die Kabinettskanzlei
des Kaisers weitergeleitet wurde.“
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In dem mit H. M. (wohl Hans Mahl) ge-
zeichneten Leitartikel derselben Nummer,
überschrieben
„Quo vadis Austria?“
, ist
keine Rede davon, dass die Schüsse von Sa-
rajewo womöglich einen Krieg auslösen
könnten. Der Artikelschreiber macht in ers-
ter Linie die inneren Zustände in der k. u. k.
Monarchie dafür verant-
wortlich, dass so etwas
Schreckliches passieren
konnte. Österreich brau-
che eine starke Hand, die
verhindere, dass sich fa-
natisierte Slawen außer-
halb und innerhalb der
Grenzen zusammentun
und Österreich in den
Abgrund reißen.
Drei Wochen später,
als die Öffentlichkeit ge-
rade vom Ultimatum an
Serbien erfuhr, sind Ton
und Aussage des Leit-
artikels in der Lienzer
Zeitung immer noch sehr
vorsichtig und zurück-
haltend. Unter der Über-
schrift
„Vor einer neuen
Krise“
ist zu lesen:
„So-
lange die europäischen
Staatsoberhäupter und
ihre leitenden Minister
trotz des unheimlichen
Rüstungswetteifers aller
Staaten die Besonnenheit wahren und den
Frieden wirklich wollen, besteht keine un-
mittelbare Gefahr für den Frieden Europas.
Die maßvollen, klug abwägenden Trink-
sprüche des Zaren und des
[französischen]
Präsidenten Poincaré in Peterhof
[bei St.
Petersburg]
tragen wieder die Merkmale
strengen Verantwortungsgefühls und ver-
ständiger Zurückhaltung.“
Gefährlich sei
nur die
„nervöse und chauvinistische
Presse“
und
„besonders starke Strömun-
gen“
in einzelnen Staaten, die an die Macht
kommen wollen.
„Hoffen wir, dass ihnen
dieses nicht gelingen möge. Es heißt, auf
der Wacht zu sein, damit keine aberwitzigen
Hände ein Feuer entzünden, an dem
Europas Zivilisation, Kultur und Weltstel-
lung verbrennen.“
2
Man musste also besorgt sein, Angst
haben musste man nicht, zumindest dann
nicht, wenn man seiner Zeitung glauben
schenkte. Auch der in Bruneck erschei-
nende, in Lienz ebenfalls gerne gelesene
NUMMER 9-10/2014
82. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Michael Forcher
„Sie waren alle guter Dinge …“
Vom Augusterlebnis zum Septemberschock – Die ersten Monate des ErstenWeltkriegs in Osttirol
Vereidigung und Verabschiedung des Feldjäger-Bataillons und der Kanonen-Batte-
rie in Lienz am Feld vor der Kaiser Franz Josef-Kaserne am 4. August 1914.
Foto: Hans Fracaro
(Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck;
zur Verfügung gestellt vom Tiroler Photoarchiv)