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Als im ausgehenden Mittelalter auch das
einfache Volk der Gläubigen den über-
kommenen Schemata in der Illustration
der Heilsgeschichte zu misstrauen und
sich mehr auf den Augenschein zu
verlassen begann, blieb den Malern
nichts anderes übrig, als ihre Bilder
an sichtbaren Fakten zu messen.
1
Der Prozess wurde um 1300 in der
Toskana eingeleitet und in der
Folge mehr als ein halbes Jahr-
tausend nach den daraus erwach-
senen Normen geregelt, welche
die Malerei vor allem auf das
Naturstudium verpflichteten.
2
Seit
Giotto kennt die Künstlerbiografik
daher auch den Topos vom
begnadeten Hirtenjungen, der
sich zum Zeitvertreib eifrig in
der Nachahmung der sichtbaren
Wirklichkeit übte.
Franz v. Defreggers Malerei
markiert das andere Ende dieser
Epochen übergreifenden Gesin-
nung. Sein Talent wurde bemer-
kenswerter Weise nicht beim
Zeichnen von Schafen, sondern
beim Fälschen von Banknoten
entdeckt:
„Man hatte damals Guldenzet-
tel, die man in vier Teile zerlegte,
um Kleingeld zu haben, und diese
hießen ‚Achtzehnerzipfe‘. Also
einen solchen zeichnete ich ab,
was mir, wie es schien, gut gelang.
Auch mein Vater, welcher sich
sonst für dergleichen wenig inte-
ressierte, lächelte und gab mir
einen Zehnguldenschein. Dies
war schon eine höhere Aufgabe,
aber es gelang mir, auch diese
Note täuschend nachzuzeichnen.“
Die Übung wurde bis zur Fünf-
zigguldennote gesteigert, und
zum Schluss befasste das öffent-
liche Aufsehen, welches die mi-
metische Begabung des jungen
Defregger erregte, gar die Justiz:
„Da mein Vater den Gerichtsher-
ren als ehrlicher, rechtschaffener
Bauer bekannt war, wurde er nach seiner
Erklärung, daß er sie mir zum Abzeichnen
in Ermangelung anderer Vorlagen gelie-
hen habe, mit dem guten Rate, er möge
mir in Zukunft anderes Spielzeug
geben, denn dieses Spielzeug sei zu
gefährlich, entlassen. Ich war um
die 14 Jahre alt und schon ziem-
lich groß und kräftig, wurde also
immer mehr zur schweren Arbeit
verwendet, sodaß die Lust zum
Zeichnen allmählich nachließ
und bald ganz in Vergessenheit
kam.“
3
Maßgeblich für die Distanz
zum Mittelalter und zur frühen
Renaissance ist, dass die Anek-
dote Giottos frühe Karriere in
umgekehrter Reihenfolge variiert
und dabei das Naturtalent ihres
Helden mit einem ausgeprägten
Sinn für das Wirtschaftliche
paart.
„Die wahre Schwäche des
Malers Defregger ist der Öko-
nom Defregger.“
4
Das Altarbild,
das der Künstler seiner Heimat-
pfarrei 1873 zum Geschenk
machte, straft diese Einschätzung
allerdings Lügen.
Der Auftrag
Die barocke Pfarrkirche St.
Martin in Dölsach war am 29.
August 1853 vollständig abge-
brannt. Sie wurde nach Plänen
von Michael Mayr bis 1858 im
Stil des Historismus neu aufge-
baut und am 15. Juni 1864 durch
Bischof Vinzenz Gasser von Bri-
xen geweiht.
5
Den Hochaltar und
die beiden Seitenaltäre entwarf
der aus Virgen stammende Bild-
hauer und Architekt Dominikus
Stadler
6
, der mit Defregger
befreundet war und auf dessen
Initiative der Maler 1863 – 1865
Paris besucht hatte.
7
Als die
Dölsacher Pfarrgemeinde an ihn
den Wunsch nach einem Altar-
bild für die neu errichtete Kirche
NUMMER 12/2013
81. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Franz von Defregger, Hl. Familie, Altarbild in der Pfarrkirche
St. Martin in Dölsach; Öl auf Leinwand, 220 x 108 cm, 1872.
Foto: Rudolf Ingruber
Rudolf Ingruber
Die Heilige Familie
Franz v. Defreggers Altarbild in der Pfarrkirche St. Martin in Dölsach