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Lenzbotin: ‚zu seinen Füßen doch’.
Die zackigen Schrofen des Spitzkofels,
das machtvoll ragende Schloß der ehema-
ligen Görzer Grafen senden mir ihre
Höhengrüße zu, gleich alten Bekannten,
über deren Wiedersehen man sich von
Herzen freut. Vom Gelände des Gaimber-
ges winken still die reizenden Häuser – seit
jeher meine Lieblinge – um deren Dächer
schon die gegen Dölsach ziehende Abend-
sonne ihre dämmerigen Goldstrahlen webt.
Für mich Großstädtler, dessen Nerven
durch das ewige markerschütternde Auto-
getute und durch das geräuschvolle Men-
schengequirl zeitweilig in einen Zustand
geraten, der ungefähr die Mitte hält zwi-
schen körperlicher Verwühltheit und seeli-
scher Durchpeitschung, bedeutet das erste
Betreten des Kaiser Josef-Platzes in Lienz
stets ein Entzücken, das ich nicht schildern
kann. Welcher Friede dort! Bin ich so un-
modern, daß mir dieser liebe versonnene
Platz so wohl gefällt? Fehlt mir die Groß-
zügigkeit des Geschmacks, daß mich all
diese winkeligen Haupt- und Nebengäß-
lein, wo die windverdrehten Stilrichtungen
neuzeitlicher Architektur noch keinen Ein-
gang fanden, so behaglich stimmen? In
Neu-Lienz freilich, gegen den Schloßberg,
büßt schon die Lienzer City allmählich
ihren gemütlichen, anheimelnden Charak-
ter ein.
Was aber ist anheimelnd? Anheimelnd
sind die kühlen, von dickem Gemäuer um-
säumten Zimmer, die gewölbten Vorhallen,
die stellenweise steilen Stiegenaufgänge,
weiters die prächtige Resonanz der Kir-
chenglocken, die plätschernden Straßen-
brunnen, dann die vielen treuherzigen
Menschen in Lienz, deren Bejahung in
einem kräftigen ‚woll, woll‘ besteht, wäh-
rend das ‚Ja‘ auf recht schmale Kost ge-
setzt ist. All das verdichtet sich mir in
einen einzigen warmen Willkommgruß.
‚Willkommen in Tirol!‘ flüstert es dort um
mich her, wie vom Munde holder Luftgeis-
ter, ,sei gegrüßt hier, gehabe dich froh,
lerne bei uns ein echter Mensch sein,
schau um dich, hier leben brave, schlichte
Menschen, die ihr Glück nicht im Hasten
nach trügerischen Aeußerlichkeiten finden,
sondern in ihrer kleinen, aber verinner-
lichten Welt. Mach du es auch so! …‘
Auf der Lienzer Kärntner Straße herrscht
kein Verkehrstrubel. Ein biederer Dienst-
mann schiebt soeben sein mit schlichten
Fahrnissen beladenes ‚Wagele‘ fürbaß,
dort schreitet ein mit dem Handtäschchen
bewehrter Südbahnkondukteur über die
feste Eisenbrücke dahin, unter deren eher-
nem Gebälk die Isel ihre von Matrei her
mitgebrachten prachtvollen Strom-Melo-
dien singt. Dann sieht man nach einer
Weile ein frisches Dirndl kommen, auf dem
Haupte das malerische schlichte Kärnt-
nerhütl, am Arm ein Körbchen; schon ver-
meinte ich den fälligen Juchezer von ihren
Lippen zu vernehmen, der auf alle Fälle
wie jubelnder Lerchentriller klingen mag,
doch nein, das Dirndl blickt mich nur froh-
gemut an und sagt unter lieblichem Kopf-
nicken: Grüß Gott! Dann ist die Straße
wieder leer, …“
Hofrat Danhelovsky sieht doch noch
zwei Artilleriesoldaten der Kaserne zu-
streben. In seiner „Reminiszenz“ auf den
Urlaub in Tirol hebt er besonders die Ruhe
und Gemütlichkeit sowie das Fehlen des
störenden Verkehrsgetriebes hervor. Köst-
lich ist, wenn Danhelovsky die Lienzer
Kärntner Straße mit jener von Wien ver-
gleicht:
„Auf dieser beginnt überhaupt die Frage
nach dem Sein oder Nichtsein mit der Ell-
bogentaktik, gewürzt mit stellenweiser
Notwendigkeit des Boxens. Die Kopf an
Kopf vorwärtsschiebende Menge hält die
beiderseitigen Bürgersteige und teilweise
auch schon den Fahrweg besetzt, von früh
bis in die herabgesunkene Nacht. Wütend
gewordene Autos stürzen mit rohem Stier-
gebrüll selbst aus den ruhigeren Neben-
straßen mit einer Plötzlichkeit hervor, daß
man in Gedanken schon von seinen Lieben
Abschied zu nehmen beginnt, denn auch
von der entgegengesetzten Richtung und
noch von drei anderen Seiten sausen solche
Geschwindigkeits-Ungetüme daher. Be-
steigst du, lieber Lienzer Leser, eine Wiener
Straßenbahn, so gibst du gleichzeitig das
schöne Bewußtsein deines Menschentums
auf und verwandelst dich in eine eingepö-
ckelte Sardine, deren Stunden in der voll-
gepferchten Dose freudlos dahinströmen …
Noch manches andere findet sich in einer
Millionenstadt, was zum vollen Glücksbe-
wußtsein nicht unbedingt nötig ist. Der un-
vergleichliche Gebirgsreigen aber, von dem
Lienz umgeben ist, …, die wunderbare Isel
und Drau mit ihrem bei Lienz miteinander
strömendem Gegurgel und die breiten er-
frischenden, ozonreichen Brisen, …, all‘
diese Dinge, nebst einigen weiteren Präch-
tigkeiten bietet nur das nun in herbstlicher
Anmut prangende Lienz. So schließe ich
denn diesen Brief mitten unter schönen Er-
innerungen an meine Lienzer Sommertage.
Ein solcher Abschluß ist für einen heimge-
kehrten Sommerfrischler aus dem Grunde
empfehlenswert, weil die Erinnerung nach
demWorte Jean Pauls das einzige Paradies
ist, aus dem wir nicht vertrieben werden
können.“
Wie würde der Wiener Urlauber Cons-
tantin Danhelovsky wohl heute, nach 100
Jahren, Lienz beurteilen – das historische
Stadtbild mit seinen immer wieder zu
registrierenden Substanzverlusten, den
stark zugenommenen Verkehr usw. Ge-
mütlicher als in Wien würde er es aber auf
jeden Fall immer noch in Lienz finden!
OSTTIROLER
NUMMER 2/2013
4
HEIMATBLÄTTER
„Lienz, Tirol / Partie an der isel“ mit Schloss Bruck im hintergrund; Farbpostkarte, 1913
(„Fotogr. Kunstanstalt h. Fracaro, Lienz“).
Die Lienzer Kärntner Straße gegen Westen, um 1925 (Postkarten industrie AG, Wien).