Seite 2 - H_1999_10

Basic HTML-Version

O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
67. Jahrgang –– Nummer 10
Vom Auwaldgebiet zum Speicher
Im Jahre 1981 war der Naturschutz-
behörde noch nicht bekannt, dass von der
TIWAG bereits Pläne vorbereitet wurden,
den Auwald am Südrand der Strassener
Möser für die Anlage eines Kraftwerk-
Speichers zu nutzen. Wegen der Seltenheit
solcher Gebiete im ganzen Alpenraum,
wegen des hohen Wertes seiner arten-
reichen Tier- und Pflanzenwelt und insbe-
sondere als wichtiger „Trittstein“ für
viele Zugvögel wurde im Oktober 1981
bei der Bezirkshauptmannschaft Lienz der
Antrag für Unterschutzstellung des ca.
7 ha großen Areals eingereicht.
Es war deshalb für die Vertreter des Na-
turschutzes zunächst schockierend, als bei
den Verhandlungen im Jahre 1983 das
ganze Ausmaß der Naturvernichtung
offenbar wurde: Schilfzonen, Wassertümpel,
Erlenbruchwald und Feuchtwiese mit der
artenreichen Flora müssten dem Speicher-
see weichen. Es war aber auch von Anfang
an der Wille aller Beteiligten erkennbar,
dass bei der Umgestaltung der Landschaft
mit Gewissenhaftigkeit und großem
Fachwissen vorgegangen werden soll, um
dem hohen Wert eines Feuchtgebietes in
diesem Raum Rechnung zu tragen.
So trugen zur raschen Entwicklung des
neuen Lebensraumes folgende Faktoren
wesentlich bei: Abhebung des alten
Oberbodens (mit Torf, Schluff, Sand) und
Verwendung für die spätere Abdeckung,
Schonung der Baumbestände außerhalb
der Speicherböschungen, Ausstechen von
Weidensträuchern, Röhricht, Hochstauden
und Riedgräsern (Seggen) und deren Ver-
pflanzung je nach Baufortschritt.
Besonderheiten der ökologischen Ge-
staltung,
die sich für die natürliche Ent-
wicklung der Pflanzen- und Tierwelt so-
wie für das Landschaftsbild günstig aus-
wirkten, waren: die Anlage der beiden
Seichtwasserbecken am Ost- bzw. West-
ufer. Durch weitgehende Trennung von
den Wasserschwankungen im Haupt-
becken und einer Größe von etwa 0,5 ha
entwickelten sie eigenständige Klein-
lebensräume mit wertvollen Brutplätzen
von Wasservögeln. Einen völlig geschützten
Lebensraum stellt die mit ursprünglichem
Bewuchs belassene Insel dar. Eine große
pflanzliche Artenvielfalt entwickelte sich
an den breiter angelegten Uferzonen des
Hauptspeichers und der Seichtwasser-
becken. Neben dem ursprünglichen
Baum- und Strauchbewuchs sind durch die
Bepflanzung zusätzlich neue Arten einge-
bracht worden. Neben acht Weidenarten
auf diesem kleinen Raum gedeihen wei-
tere 25 Baum- und Straucharten.
Der Blütenreigen
der Kräuter und
Stauden beginnt im
April mit Pestwurz
und Huflattich und
setzt sich im Mai/
Juni fort mit Klee-
arten,
Beinwell,
Fr üh l i ngsmi e r e ,
Taubnessel, Knöte-
richarten,
Kratz-
disteln,
Gänse-
blümchen, Löwen-
zahn, Fingerkraut,
G i l bw e i d e r i c h ,
Blutweiderich, Mar-
geriten, Glocken-
blumen, Labkraut
u. a. bis im Sommer
die hohen Stauden
kommen: Mäde-
süß, Wiesen-Bä-
renklau und Engel-
wurz.
Zusammenfassend
kann gesagt wer-
den, dass am Tassenbacher Speicher Bau-
maßnahmen und Renaturierung weit-
gehend den ökologischen Verhältnissen
angepasst waren. Mit großem Wissen und
viel Erfahrung konnte hier eine neue,
schöne Landschaft geschaffen werden, wo
Pflanzen und Tiere viel Freiraum für die
weitere Entwicklung erhielten, wo noch
Platz für Zuwanderer ist – und wo sich
auch der Mensch in der Freizeit wohl fühlt.
Zu allen Jahreszeiten bietet der Speicher
etwas: im Winter den Langlauf auf der
schönen Loipe des Uferweges; im Früh-
jahr den vielen „Frühlingsforschern“ der
Oberländer Schulen; im Sommer und
Herbst den Joggern, den Fischern, den Fa-
milien mit Kleinkindern, allen Arten von
Spaziergängern, den Läufern im Raika-
Cup, den Radlern und den Ornithologen.
Die Vogelwelt am Tassenbacher Speicher
Schon vor dem Bau des Speichers hat
Franz Goller um 1980 – damals noch ein
Gymnasiast, der täglich nach Kartitsch
hinauf musste –, sehr gewissenhaft die
Vogelbeobachtungen im ursprünglichen
Auwald und Feuchtgebiet notiert. Er kam
auf etwa hundert Arten, wovon er rund die
Hälfte als Brutvögel bezeichnete.
Die eigenen intensiveren Beobachtun-
gen begann ich im Frühjahr 1989, wobei
ich mein Hauptinteresse vor allem der
Vogelwelt zuwandte, aber auch die Ent-
faltung der Vegetation verfolgte. In den
bisher 301 Besuchen am Speicher konnte
ich zusammen mit einigen anderen
Ornithologen bisher 136 Vogelarten fest-
stellen. Davon sind sehr wahrscheinlich 50
Brutvogelarten, viele regelmäßige Zug-
vögel und dazu eine Reihe von seltenen
Durchzüglern und Irrgästen.
Für die
Qualität des neuen Lebens-
raumes
spricht die Tatsache, dass einige
frühere Durchzügler nun zu regelmäßigen
Brutvögeln geworden sind: Zwergtaucher
(der im vorigen milden Winter auch im
Jänner am Speicher war), das Grünfüßige
Teichhuhn, der Flußuferläufer und wahr-
scheinlich auch der Sumpfrohrsänger, der
hier vielleicht den einzigen Brutplatz im
Bezirk hat.
Tassenbacher Speicher, Bauphase 1984 bis 1988. Foto: TIWAG
Abhebung des alten Oberbodens und Entnahme großer Pflanzenballen (Seggen, Hoch-
stauden, Röhricht).
Foto: TIWAG