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Wenige naturkundliche Ereignisse haben
in Osttirol während des Jahres 2001 so viel
Aufsehen erregt wie die Brut eines Grau-
reihers in Mittewald, Gemeinde Assling. In
zweifacher Hinsicht war dies auch eine ge-
wisse Sensation: Fürs Erste gab es seit 150
Jahren keine schriftliche Mitteilung mehr
über eine Graureiher-Brut in Osttirol. Von
Franz Keil (Lienz, 1859) stammt darüber die
älteste und bisher letzte Notiz: „Der Storch
brütet nicht im Gebiete, wohl aber der Fisch-
reiher.“ Zum Zweiten darf man aufgrund der
Angaben in der Literatur annehmen, dass
der Brutplatz am sonnigen Waldhang bei
Mittewald zu den höchstgelegenen in den
Ostalpen zählt. So gibt Walter Wüst in
seiner Avifauna Bavariae (München 1979)
den höchsten Standort in Bayern ebenfalls
mit 900 m (bei Oberstdorf) an.
Der Verlauf der Brut in Mittewald
Lage: 46° 46´N. 12° 36´E.
Hinter dem neuen Ortsteil von Mittewald,
Unterdorf genannt, erhebt sich steiler Wald
– vorwiegend mit hohen Fichten bestockt –
bis unter die Felder von Unterkosten hinauf.
Kaum hundert Meter über der Siedlung be-
obachtete Alois Hofmann, ein Bewohner des
Unterdorfes, etwa ab Mitte Mai, dass sich
drei Graureiher, zwei Altvögel und ein Jung-
vogel, auf einer hohen Fichte niederließen.
Als dann bald mit dem Nestbau wenige
Meter unterhalb des Wipfels der ca. 25 m
hohen Fichte begonnen wurde, zog der Jung-
vogel ab. Etwa Mitte Juni konnte Herr Hof-
mann das Schlüpfen von vier Jungen der
Reihe nach feststellen.
Vom 12. Juli an waren fünf Junge und
vier Altvögel im Nest bzw. in unmittel-
barer Umgebung zu sehen … Bis in den
August hinein blieb die neunköpfige
kleine Kolonie besetzt; allerdings waren
die Jungen später nicht nur im Nest, son-
dern auf Ästen rundherum, sodass man
schon von „Ästlingen“ sprechen konnte.
Die Graureiher waren um diese Zeit
bereits vielfach untertags auf Futtersuche:
Nummer 4/2002
70. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Graureiher (Ardea cinerea).
Foto: Alois Heinricher
paun (östlich von Dölsach) neben zwei bis
drei Altvögeln auch längere Zeit hindurch
zwei junge Graureiher beobachten
konnte.
Außerordentlich günstige Witterungs-
verhältnisse dürften wesentlich zur erfolg-
reichen Brut beigetragen haben: Lienz ver-
zeichnete im Jahr 2001 von Mai bis Ende
August 79 Sommertage, davon 37 Tropen-
tage – mit Maxima über 30° C – bei durch-
schnittlichen Niederschlagsmengen.
Die Beobachtungen an diesem Nistvor-
gang decken sich weitgehend mit der Fach-
literatur: Graureiher brüten in Österreich
mehrfach an Flüssen und Seen: einzeln,
aber meist in Kolonien. Sehr häufig sind
Hangwälder in nicht zu breiten Tälern das
geeignete Brutareal. So wie in den meisten
Brutgebieten der Alpen (z. B. in Südbay-
ern) wurde auch hier die Fichte gegenüber
Kiefer und Tanne als Brutplatz bevor-
zugt. Die Brutzeit dauert fast genau vier
Wochen, die Fütterung am Nest sieben
Wochen, ehe die Jungen flügge werden.
Beobachtungen von Graureihern
in Osttirol von 1954 bis 2001
Josef Kühtreiber konnte in seiner Arbeit
im Jahre 1952 „Die Vogelwelt der Lienzer
Gegend“ (Schlern-Schriften) den Graurei-
her nicht nach eigenen Beobachtungen,
sondern nur nach Gewährsmännern an-
führen: So den Förster Mattweber, der ihn
als „selten in der Tristacher Au“ bezeich-
nete, oder „besonders im Herbst als
Durchzügler an Isel und Drau“.
Daher war für mich die erste Beobach-
tung eines Graureihers am 2. Mai 1954 auf
einer Wanderung zusammen mit Prof. Dr. J.
Kühtreiber entlang der Drau zwischen Döl-
sach und Jungbrunn ein seltenes Erlebnis.
Auch in den nächsten Jahren blieben
Graureiher-Beobachtungen für mich und
andere Osttiroler Vogelkundler selten:
1955: eine Beobachtung bei Kapaun;
1959: ebenfalls nur eine Beobachtung an
der Drau bei Nikolsdorf;
in der Umgebung, etwa auf den „Leiter Fel-
dern“ zwischen Straße und Bahn; aber auch
an Gewässern: so an der Drau, an einem
Teich bei Thal und am 20 km entfernten
Tassenbacher Speicher und mehrere Male in
der Nähe des Tristacher Sees (zweite
Julihälfte). Abends kehrten alle Graureiher
wieder zu ihrem Nistplatz zurück. Auch als
das Nest endgültig verlassen wurde, waren
immer wieder Graureiher in der Nähe des
Nistplatzes vorbeifliegend zu beobachten.
Ende August/Anfang September wurde das
ganze Nest abgetragen: Entweder warfen
die Vögel die Äste vom Standplatz hinunter
oder ließen sie im Flug fallen.
Bemerkenswert ist, dass ein Fischer ab
Anfang September an einem Teich bei Ka-
Alois Heinricher
Der Graureiher (Ardea cinerea)
in Osttirol