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gerieten,
13
und ihre Bedeutung nicht mehr
erkannt wurde.
Mit Einsetzen der neuen Möglichkeiten,
welche die Druckgraphik im 16. und 17.
Jahrhundert mit sich brachte, wurden be-
rühmte Bilder so wie Raffaels „Madonna
della Sedia“ in ganz Europa bekannt und
kopiert. Dabei spricht man von einer re-
gelrechten „Raffael-Renaissance“ zu die-
ser Zeit. Und durch die verbesserten Re-
produktionsmethoden im 19. Jahrhundert
wurden Raffaels Motive in alle Welt ver-
breitet.
14
Ein Beispiel dafür ist der Kup-
ferstich von Johann Gotthard Müller nach
Raffaels „Madonna della Sedia“ von 1804
(Abb. 7). Diese „Raffael-Mode“ blieb na-
türlich auch für die Gattung der Skulptur
nicht ohne Folgen. Ein der Matreier Ma-
donna vergleichbares Bildwerk, eine aus
Stein angefertigte Madonna aus dem
Salesianerinnen-Kloster in Wien (1320-
1330) (Abb. 8)
15
, besaß vor ihrer Res-
taurierung, das heißt vor der Abnahme
der Übermalungen aus dem 19. Jahr-
hundert, einen ähnlich gemusterten
Schleier mit roten und grünen Streifen
(Abb. 9).
16
Weitere Beispiele solcherart
neuzeitlicher Kopftuch-Fassungen von
Madonnen, sind die sogenannte Glas-
hütter Madonna aus der katholischen
Filialkirche Mariä Heimsuchung, Glas-
hütte bei Kreuth am Tegernsee
17
und
eine Schutzmantelmaria von Michel
Erhart, um 1480, im Bode-Museum
Berlin (Abb. 10).
18
Der gestreifte Schleier der Matreier
Madonna kann daher in die Reihe der
„Raffael-Renaissance“ gestellt werden.
Die Fassung der Vorderseite dürfte sich in
ihrem Stil an der Neo-Gotik des 19. Jahr-
hunderts orientiert haben, bei der mit Auf-
kommen eines allgemeinen Geschichtsbe-
wusstseins und einer damit einhergehen-
den Mittelalterbegeisterung, Skulpturen
in „mittelalterlicher Manier“ neu gefasst
wurden. Dabei hielten sich die Künstler-
Restauratoren
19
jedoch nicht an die mittel-
alterliche Farbgebung, sondern kreierten
neue vermeintlich mittelalterlich erschei-
nende Fassungen.
Die Betrachtung der Kleider der Mari-
enskulptur aus St. Nikolaus zeigt, dass
auch das Äußere von Skulpturen nicht von
der Mode verschont geblieben ist. Eine
Tatsache, die uns heute irritieren mag –
doch taten diese ästhetischen Anpassungen
von Skulpturen dem religiösen Kult keinen
Abbruch. Die neuen Kleider der Maria
sind vielmehr die Bestätigung dafür, dass
die Funktion der Skulptur als Kultbild im
religiösen Gebrauch bewahrt wurde. Ob
diese neu gefassten Kleider nun einem
künstlerischen Anspruch gerecht werden,
ist eine Frage, die nur unter Berücksichti-
gung der jeweiligen Zeit beantwortet wer-
den kann. Was uns heute als zu bunt oder
gar kitschig erscheint, kann zu früheren
Zeiten durchaus den Geschmack der Zeit
getroffen haben. Denn was künstlerische
Qualität ist, hängt immer mit dem sozia-
len, moralischen, politischen oder religiö-
sen Intaktsein einer Gesellschaft zusam-
men.
20
Bildernachweis:
Bundesdenkmalamt
Abb. 1, 3 – Ursula Marinelli Abb. 4, 5, 7,
10 – Alle übrigen Aufnahmen Foto-Archiv
Dr. Ursula Marinelli.
OSTTIROLER
NUMMER 7/2012
4
HEIMATBLÄTTER
Abb. 10: Michel Erhart, Schutzmantel-
Madonna, mit neuzeitlicher Kopftuchfas-
sung, um 1480 (Bode-Museum, Berlin).
Anmerkungen:
1 Es sind dies unter anderem eine Nikolausskulptur aus
der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, die jetzt aus Sicher-
heitsgründen in der Sakristei der Nikolauskirche in
einem Kasten aufbewahrt wird. Weiters eine hölzerne
Säule aus dem 13. Jahrhundert, welche das Vordach
über dem Eingang trug und 1897 an das Tiroler Lan-
desmuseum Ferdinandeum verkauft wurde, sowie einige
Tafelbilder eines zerstörten Nothelfer-Altars, die in das
Eigentum der Staatsgalerie Stuttgart übergingen. Vgl.
Meinrad P
IZZININI
, Verkauft, verschenkt, verschollen …
in: Marktgemeinde Matrei in Osttirol (Hrsg.), Matrei in
Osttirol. Ein Gemeindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der
ersten Erwähnung als Markt 1280-1980, Innsbruck
1996; S. 306-307.
2 Vgl. Elisabeth P
SENNER
, Die Madonna mit Kind in St.
Nikolaus bei Matrei in Osttirol, in: Tiroler Heimatblät-
ter, 1/3 (1969), S. 27-30. Vgl. die barocke Aufstellung
der Skulptur mit Stoffbaldachin noch im 20. Jahrhundert
auf einer Abbildung bei Theodor M
ÜLLER
, Mittelalter-
liche Plastik Tirols. Von der Frühzeit bis zur Zeit Mi-
chael Pachers, Berlin 1935, S. 45, 125, S. 38 Abb. 82,
sowie die Farbtafel in Theodor Müllers späterem Buch,
„Gotische Skulptur in Tirol“ von 1976, worauf der
Madonna der Stoffbaldachin und ihre Krone bereits
entnommen worden sind. Müller, Skulptur Farbtafel III.
3 Theodor M
ÜLLER
, Gotische Skulptur in Tirol, Bozen-
Innsbruck 1976, S. 426.
4 Das Maß bezieht sich auf die Vollfigur inklusive
der Krone, die jedoch eine spätere Zugabe aus der Zeit
des Barock ist.
5 Ulrich S
öDING
, Gotische Skulptur, in: Paul Naredi-
Rainer / Lukas Madersbacher (Hrsg.), Kunst in Tirol Bd. 1
Von den Anfängen bis zur Renaissance, Bozen-Inns-
bruck-Wien 2007, 217-266; S. 236-237 – Meinrad
P
IZZININI
, Der Matreier Raum als Kunstlandschaft, in:
Marktgemeinde Matrei in Osttirol (Hrsg.), Matrei in
Osttirol. Ein Gemeindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der
ersten Erwähnung als Markt 1280-1980, Innsbruck
1996, S. 258-307; S. 275 – Gert A
MMANN
, Katalog Nr.
18.16 Maria mit Kind, in: Südtiroler Landesmuseum
Schloß Tirol/Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
(Hrsg.), Eines Fürsten Traum Meinhard II. – Das Wer-
den Tirols, Ausst.-Kat., Neu-Rum 1995, S. 464 – Tho-
mas Z
AUNSCHIRM
, Die Plastik des 14. Jahrhunderts, in:
Salzburger Museum Carolino Augusteum (Hrsg.), Spät-
gotik in Salzburg. Skulptur und Kunstgewerbe 1400-
1530, Ausst.-Kat., Salzburg 1976, S. 17-42; S. 34 –
Erich E
GG
, Kunst in Tirol. Baukunst und Plastik, Inns-
bruck-Wien-München 1970, S. 268.
6 Vgl. Ursula M
ARINELLI
, Polychrome Metamorphosen.
Mittelalterliche Skulpturen in neuzeitlichen Fassungen.
Von der Macht der Malerei und der Ohnmacht
der Kunstgeschichte, Phil.-Diss., MS, Innsbruck 2012.
7 Es handelt sich dabei um eine sogenannte Lüstrierung.
Dazu wird eine Auflage aus Blattmetall aus Gold oder
Silber auf die Skulptur aufgebracht und auf diese wer-
den wiederum mehrere hauchdünne Schichten Farbe
aufgetragen. Dadurch wird ein metallisch glänzender
Farbeffekt erzielt. Vgl. Thomas B
RACHERT
/ Friedrich
K
OBLER
, Fassung von Bildwerken, in: O. Schmitt / Zen-
tralinstitut für Kunstgeschichte München (Hrsg.), Re-
allexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. VII.,
München 1981, Sp. 743-826; Sp. 780-781.
8 Psenner stellte 1969 „grüne und rote Streifen“, Koller
nach der Restaurierung „grüngelbe“ Streifen fest. Vgl.
P
SENNER
, Madonna (wie Anm. 2), S. 27 und Manfred
K
OLLER
, Hochgotische Skulpturen in barocken Fassun-
gen, in: Restauratorenblätter zum Thema Gefasste
Skulpturen I Mittelalter, 18 (1998), S. 61-66; S. 65.
9 Erst mit der Einführung von einschlägigen Restaurato-
renausbildungen sowie Standards für die Restaurie-
rungsarbeit, wie der „Charta von Venedig“ (1964) und
dem „Nara Document on Authenticity“ (1994) wurde
die schriftliche und bildliche Dokumentation für
Restauratoren verpflichtend.
10 Manfred K
OLLER
, Hochgotische Skulpturen in barocken
Fassungen, in: Restauratorenblätter zum Thema
Gefasste Skulpturen I Mittelalter, 18 (1998), S. 61-66;
S. 65.
11 Koller führt an, dass es sich bei der rückseitigen Fassung
aufgrund des „grüngelben Streifenmusters des Schlei-
ers, dem bleiroten Mantel mit Zwischgoldsaum und
dem weißen, grünbesternten Kleid“ um eine Fassung
des Frühbarocks (17. Jh.) handeln muss. Die zuletzt
bestehende und nach der Restaurierung konservierte
Fassung mit stark ausgebleichtem Rotlüster am Mantel,
preußischblauem Mantelfutter, silbergrauem Kleid,
vergoldetem Schleier und blaugelüstertem Kleid des
Kindes entspricht dem Fassungsstil des 18. Jahrhunderts
für hochgotische Madonnen – Koller führt dazu einige
Vergleichsbeispiele an. Doch die volkstümliche
Ausführungsart und der alpine Standort der Skulptur
könnten auch eine Ausführung zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts vermuten lassen. K
OLLER
, Hochgotische
Skulpturen (wie Anm. 10), S. 65.
12 Die Farbe Gelb galt zudem als Schandfarbe. Günther
J
ARITZ
, Prostituiertenkleidung, in: Harry Kühnel, Bild-
wörterbuch der Kleidung und Rüstung. VomAlten Orient
bis zum ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 204.
13 Monika I
NGENHOFF
-D
ANHÄUSER
, Maria Magdalena
Heilige und Sünderin in der italienischen Renaissance.
Studien zur Ikonographie der Heiligen von Leonardo
bis Tizian, Tübingen 1984, S. 79.
14 Corinna H
öPER
, „Mein lieber Freund und Kupfer-
stecher“: Raffael in der Druckgraphik des 16. bis
19. Jahrhunderts, in: C. Höper (Hrsg.), Raffael und die
Folgen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner graphischen
Reproduzierbarkeit, Staatsgalerie Stuttgart, Ausst.-Kat.,
Ostfildern-Ruit 2001, S. 51-119; S. 72.
15 Marlene Z
yKAN
, Zwei gotische Madonnenstatuen und
ihre Restaurierung, in: österreichische Zeitschrift für
Kunst und Denkmalpflege, XXII (1968), S. 171-184;
S. 180.
16 Josef Z
yKAN
, Über die Restaurierung der Madonna im
Salesianerinnen-Kloster, in: österreichische Zeitschrift
für Kunst und Denkmalpflege, XXII (1968), S. 185-187;
S. 186.
17 Georg L
ICKLEDER
, Kirche an der Grenze, in: Das
Tegernseer Tal. Zeitschrift für Kultur, Landschaft,
Geschichte, Volkstum, 3 (1956), S. 118-120 und Georg
L
ICKLEDER
, Kunstwerke im Tegernseer Tal, in: Das
Tegernseer Tal, 5 (1960), S. 58-59.
18 Marion B
öHL
/ Klaus L
EUKERS
, Kat. Nr. 24 Schutz-
mantelmaria, in: Ulmer Museum / Brigitte Reinhardt /
Stefan Roller (Hrsg.), Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä.
Spätgotik in Ulm, Ausst.-Kat., Theiss, Stuttgart 2002,
S. 276-277.
19 Den Beruf des Restaurators gab es damals noch nicht.
Meistens wurden Maler oder Bildhauer mit dieser
Aufgabe betraut.
20 Francis H
ASKELL
, Die Kunst und die Sprache der
Politik, in: Francis Haskell, Wandel der Kunst in Stil
und Geschmack, Köln 1990, S. 122-138; S. 122.
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini. Für
den Inhalt der Beiträge sind die Autoren verant-
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Anschrift der Autorin dieser Nummer: Mag.
a
phil. Dr.
in
phil. Ursula Marinelli, A-6020 Innsbruck,
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