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Virgen. Der Eingang ins Thal Virgen,
eine halbe Stunde vor Windischmatrey,
fünfthalb Stunden von Lienz, führt über
schaudererregende Abgründe, aber auf
gutem, für Einspannwagen fahrbaren
Bergwege, der die lieblichste Aussicht auf
Berg und Wald gewährt. Das Thal zerfällt
in drei Theile, das eigentliche Virgen, Pre-
gratten und das Umbalthal, terrassenartig
hintereinander sich erhebend. Die Isel,
welche die schmale Sohle durchbraust,
wird von allen Seiten mit Zuflüssen ver-
mehrt, die die beiden Seitenflügel des
Thals auf das mannigfaltigste durch-
schneiden und durchwühlen. Das Pfarr-
dorf Virgen, welches den ersten und
fruchtbarsten Theil des Thales einnimmt,
anderthalb Stunden von Windischmatrey
entfernt, besteht aus dem Mitteldorfe am
Eingange ins Thal, Virgen, Obermauren,
und einigen zerstreuten Häusergruppen,
und enthält eine Bevölkerung von 1680
Seelen. Ausser der Pfarrkirche zum heil.
Virgilius findet man noch die Frauenkir-
che in Obermauren, einst eine stark be-
suchte Wallfahrt, und vier Kapellen in
Wezelach, Göriach, Mitteldorf und
Meliz. Der grösste Theil der Bevölkerung
hat sich auf der Sonnenseite des Thals
angesiedelt, während die Schattenseite
mit Wald und Grasboden bedeckt ist.
Man zählt im Ganzen 249 Wohnhäuser
und 291 Familien. Die Güter und Huben
sind so sehr zerstückelt, dass nicht bloss
auf einer Viertel und Sechstel, sondern
sogar auf einer Achtel Hube eine Familie
angesiedelt ist. Das Erdreich ist grösst-
entheils mager und erfordert viel Dünger.
Die steilen Felsenwände gegen Norden
schneiden den Tauernwind ab, und be-
wirken, dass Virgen, im Verhältnisse zu
gleich hoch gelegenen Ortschaften, als
warm gelten kann. Daher gedeiht im gan-
zen Thale das Getreide gut, zufällige
Reifschäden ausgenommen, am besten
die Gerste. Man baut jedoch gewöhnlich
zwei Drittel Roggen und nur ein Drittel
Gerste, Weizen noch weniger, da er
schlechte Körner liefert, und mehr dem
Missrathen ausgesetzt ist. Auch wächst
von Mitteldorf bis Virgen gemeines
Obst, das aber später reif wird, als in wär-
mern Gegenden. Die Hauptnahrungs-
quelle bleibt jedoch immer die Viehzucht,
zu deren Gedeihen gesegnete Jahre erfor-
dert werden. Späte Kälte im Frühlinge,
nasse Sommer und frostige Herbste
schaden eben so sehr, als trockene, was-
serarme Jahre, wo leicht Seuchen unter
dem Vieh einreissen. Andere Quellen des
Verdienstes besitzt das Thal nicht. In na-
turhistorischer Hinsicht verdienen die
schönen Krystalle von verschiedener
Farbe erwähnt zu werden, die man in Vir-
gen bricht. Der Botaniker findet auf den
Virgenalpen eine grosse Fülle der selten-
sten Kräuter. Das Volk hängt mit
innigster Liebe an seiner Scholle, und
baut sie rastlos an nach hergebrachter
Weise. In Kost, Sitte und Tracht ist es
äusserst arm und einfach. Selbstgemach-
ter Loden liefert ihm die nothwendigen
Kleidungsstücke. Die Wohnungen im
Innern sind grösstenteils unrein, be-
schränkt und erbärmlich ausgestattet, so,
dass sie mitunter als Ursachen der häu-
figen Krankheiten gelten, womit das ver-
armte Volk heimgesucht wird. Die Seel-
sorge wird von drei Priestern verwaltet …
Virgen mit Pregratten bildete früher ein
eigenes Pfleggericht, welches seinen
Sitz im Schlosse Rabenstein hatte. Dieses
liegt auf einer grasbewachsenen Anhöhe
auf dem Sonnenberge ob dem Dorfe Vir-
gen.
Auszug aus:
Beda Weber, Das Land Tirol. Ein Hand-
buch für Reisende, Bd. 3, Innsbruck 1838, S. 151 ff..
19. Jahrhundert in der Kapelle von
Schloß Bruck
37
. Die Dokumentation dieser
in geistesgeschichtlicher Hinsicht oft
wertvollen Zeugen der Vergangenheit ist
zweifellos eine interessante und lohnende
Aufgabe für Heimatforscher und Histori-
ker. Inschriften sollten jedenfalls in Zu-
kunft mehr Beachtung finden, als dies bis-
her geschah
38
.
Anmerkungen:
1 Der Begriff „Dreisprachenstein“ wird zumeist für den
Stein von Rosette (Ägypten) gebraucht, dessen Text zur
Entzifferung der Hieroglyphen geführt hat (C. W.
Ceram, Götter, Gräber und Gelehrte. Roman der Ar-
chäologie, Hamburg 1956, S. 102-112). – Für wertvolle
Hinweise und Hilfestellungen sei Mag. Gerd Pichler
(Wien) und Mag. Florian Schaffenrath (Innsbruck) herz-
lich gedankt!
2 Joh. 19, 19f.: „Pilatus schrieb aber auch eine Aufschrift
… auf das Kreuz; … und es war geschrieben auf
hebräisch, griechisch und lateinisch.“
3 Allgemein zu diesem Thema: B. Bischoff, Das Grie-
chische im abendländischen Mittelalter, in: Ders.,
Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur
Schriftkunde und Literaturgeschichte 2, Stuttgart
1967, S. 246-275 (zu Hugo: S. 246, Anm. 2).
4 J. Kugler, Valentin Fercher, ein merkwürdiges Pries-
terleben, OHBl 7/1934, S. 29 f.
5 [Anonym,] Zur Geschichte und Topographie des ehe-
maligen, nun dem k.k. Landgerichte Windischmatrei
einverleibten Pfleggerichts Virgen (Fortsetzung), in:
Der kaiserlich-königliche privilegierte Bothe für Tirol
und Vorarlberg 1835, S. 352.
6 Vgl. etwa die von der Reformation beeinflusste Tradi-
tion des deutschsprachigen „Kirchensingertums“ im
Pustertal (J. Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol.
Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck 2001, S. 158). Da-
neben war die Nichteinhaltung des Zölibatgebotes, etwa
durch Valentin Ferchers Vater Johann, ein weiterer Be-
rührungspunkt mit der Reformation. – Zu Valentins
Vater Johann siehe: S. Kurzthaler, Testament des Pfar-
rers Johann Fercher († 2. Feber 1605), OHBl 10/1993.
7 Alles zitiert nach Kugler (siehe Anm. 4).
8 J. Astner, Aus den Matriken des Pfarrers Valentin Fer-
cher in Virgen (1592-1616), OHBl 1/1980.
9 J. Astner, Johannes Fercher: Pfarrer und Gelehrter von
Format, in: M. Forcher, Matrei in Osttirol. Ein Ge-
meindebuch zum 700-Jahr-Jubiläum der ersten Erwäh-
nung als Markt 1280-1980, Matrei i. O. 1980, S. 105:
Fercher „beherrschte Deutsch, Latein, Griechisch und
Hebräisch in Wort und Schrift“.
10 A. Schmid, s. v. Ingolstadt, Lexikon f. Theologie u. Kir-
che 5 (1996) 494: „(ein) wirkungsvoller Gegenpol zu
Martin Luthers Wittenberg“.
11 Zu deutsch etwa: „Student der Wissenschaften/der Spra-
chen“ (Der lat. Begriff
litterae
ist weiter als unser Wort
„Literatur“); siehe: L. Buzas, Die Matrikel der Ludwig-
Maximilians-Universität Ingolstadt, München 1981, Bd.
4, S. 1.001, Zeile 37 (Oktober 1574, Nr. 23).
12 Ebenso bei Kugler (Anm. 4).
13 Kugler (Anm. 4), S. 30.
14 Der Bruchsteinsockel, auf dem der Stein ruht, ist zwei-
fellos jüngeren Datums.
15 Die Abkürzung „heiliger Namen“ dürfte auf das alttes-
tamentarische Gebot zurückgehen, den Namen Gottes
nicht achtlos auszusprechen. So wird ja auch das Wort
Kyrios
oder der Vokativ
Kyrie
oft durch den Anfangs-
und Endbuchstaben abgekürzt (K
Σ
, KE; sogenannte
Kontraktionskürzung), ebenso – auf griechischen Iko-
nen zu beobachten – der Ehrentitel „Mutter Gottes“
(Metér Theoû, griech. abgekürzt MP OY).
16 So z. B. im romanischen Tympanon der Pfarrkirche von
Kaysersberg im Elsass; häufig auch in Handschriften als
ihc,
also in Minuskeln (Kleinbuchstaben). Die Form des
Sigma als „C“ hat sich auch im cyrillischen Alphabet er-
halten.
17 Eine ähnliche volkstümliche Deutung liegt ja auch bei
C+M+B (Christus mansionem benedicat = Christus
segne das Haus!) als „Caspar, Melchior, Balthasar“ vor.
18 Eine der Bezeichnungen für den Messias, vgl. Maleachi
3, 20.
19 Matthäus 24, 30.
20 An dieser Stelle möchte ich meinem Freund Dr. Bill
Gallagher (Wien) für die Transkription sowie erklärende
Hinweise herzlich danken!
21 Z. B. Psalm 112 (113), 2; Dan. 2, 20; Tob 3, 23: Sit
nomen domini benedictum o. ä.
22 Eugippius, Vita S. Severini 23, 1; 28, 3; 29, 4.
23 Siehe oben Anm. 16.
24 So etwa über dem (ehemaligen) Haus Windmühlgasse
29, Wien-Mariahilf (heute Mariahilfer Heimatmuseum):
Der namen des Hern sey gepönedeiet in der arbeit
(1657) oder lateinisch (
Sit nomen domini benedictum
)
auf dem Haus Hauptplatz Nr. 3 von 1595 in Spittal/Drau
(F. W. Leitner, Die Inschriften des Bundeslandes Kärn-
ten 1. Die Inschriften des politischen Bezirks Spittal a.
d.
Drau
und
Hermagor,
Wien
1982
[= Die Deutschen Inschriften 21 = Wiener Reihe 2.
Bd.], Nr. 316 ohne Verweis auf den Bibeltext).
25 Hinweis von Dr. Bill Gallagher.
26 EXITUS ACTA BROBAT [statt: PROBAT]: Heroides
2, 85 (schon S. Kurzthaler, Renaissanceepitaphe. Res-
taurierung und Übertragung in die Pfarrkirche St. Alban
[sic], Matrei i. O., OHBl 9/1989, vermutete dahinter ein
Ovidzitat).
27 Hiob 19, 25: im Original heißt es: Scio,
quod …
(Ich
weiß, dass …). – Siehe: R. Kohn, Die Inschriften der
Stadt Wiener Neustadt, Wien 1998, S. 119 (Nr. 173)
(Die Deutschen Inschriften Bd. 48, Wr. Reihe Bd. 3).
28 „De profundis hab ich, her, zu dir gerufen …“ (Siehe:
A. B. Meyer – A. Unterforcher, Die Römerstadt Agunt
bei Lienz in Tirol, Berlin 1908, S. 102, Anm. 1, und:
[Anonym,] Vom Grabmal des Andreas von Graben,
OHBl 9/1935, S. 36).
29 Denkbar wäre auch:
Pater oder Pastor.
30 Vgl. dazu E. Benedikt (Hg.), P. Justinus a Despositione
BVM (J. J. Will), Ausgewählte Werke für ein Tasten-
instrument, Heft II, Wien 1995, S. 1: Der komponie-
rende Karmelitenpater, der u. a. auch in Lienz wirkte,
wurde von so manchem Musikwissenschaftler schon
nach Sizilien verpflanzt! (Vgl. auch: E. Benedikt, Der
bedeutendste Komponist des Karmeliterordens hat in
Lienz gewirkt, OHBl 4/1993).
31 R. Zimmerl, Die Entwicklung der Grabinschriften
Österreichs, Jahrbuch der Österr. Leo-Gesellschaft
1934, S. 185-220, bes. S. 194f.
32 Für den Hinweis danke ich Herrn Univ.-Doz. Dr. Mein-
rad Pizzinini sehr herzlich!
33 Abermals sei Dr. Gallagher für seine briefliche Mittei-
lung (Oktober 2001) mit verschiedenen Lesungsmög-
lichkeiten gedankt. Gallagher hält diese Lesung noch
am ehesten für denkbar, allerdings ist es erforderlich, die
Punktierung und einen Buchstaben abzuändern (Andere,
noch unsichere Lesungen des Nomens wären: yechur =
„Zweig“ und yichud = „besondere Zeit“, „Termin“).
34 Vgl. M. Pizzinini, Lienz. Das große Stadtbuch, Lienz
1982, S. 84f.
35 Franziskanerkirche: Katarina des Graben (1552):
DORMIO IN XPO (= Ich schlafe in Christo), zitiert bei
Pizzinini (Anm. 31), S. 159 mit Abb. 196; St. Michael:
Andreas de Graben: „AIN ARMS WERCH DES
HERRN SCHLAFT RVET HIE IN XPO …“ (1550).
Für die Hinweise (auch auf darin möglicherweise ent-
haltenes reformatorisches Gedankengut) sei Herrn Pfar-
rer Dipl.-Ing. Hans Hecht herzlich gedankt!
36 Relativ häufig begegnen die drei Hl. Sprachen auch bei
Imitationen des Kreuzestitulus, also der eingangs er-
wähnten Inschrift auf dem Kreuz Jesu, so etwa in Ober-
mauern (gotischer Kreuzigung über dem Seiteneingang)
oder im Widum von St. Veit i. D. (barock).
37 Meines Wissens unpubliziert; Ritz- und Kritzelin-
schriften stellen noch weitgehend eine terra incognita in
der Epigraphik dar.
38 Das „Thematische Verzeichnis der Osttiroler Heimat-
blätter“ (1999) weist nur zwölf Aufsätze aus, die dem
Thema Inschriften gewidmet sind.
O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
70. Jahrgang – Nummer 5
IMPRESSUM DER OHBL.:
Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini.
Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren ver-
antwortlich.
Anschrift des Autors dieser Nummer:
Mag.-phil. Michael Huber, A-1060 Wien, Maria-
hilferstraße 99/23.
Manuskripte für die „Osttiroler Heimat-
blätter“ sind einzusenden an die Redaktion des
„Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzinini,
A-6176 Völs, Albertistraße 2a.
Beda Weber über das Dorf Virgen, 1838