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die
Deserteure
David und Alois
Holzer sowie Franz
Stolzlechner gefun-
den. David Holzer
kennt es, er liest die
Sätze noch einmal
durch, der Finger
fährt unter den Wör-
tern mit. Bei dem
Namen Franz Stolz-
lechner hält er an
und klopft auf das
Papier.
Franz Stolz-
lechner, das ist der
Sohn des früher in
diesem Hause an-
sässigen
Wirtes,
sagt David Holzer.
Wisst ihr das?
Anton Stolzlechner,
der
Vater
von
Franz, der Wirt und
Greißler des Dorfes,
habe sie unterstützt
und mit Lebensmitteln versorgt.
Er war ein
Schwarzer, christlich-sozial, österreich-
patriotisch gesinnt. Drüben am Friedhof,
David Holzer zeigt in Richtung Pfarrkirche,
hängt ein Grabstein für Franz Stolzlechner.
Er ist in Wien erschossen worden.
(Später
werden wir uns den Grabstein auf dem
Schlaitner Friedhof ansehen und keinen
Hinweis auf die Umstände seines Todes
finden.) Stolzlechner starb am 8. Juni 1944
im Kugel-hagel eines Erschießungskom-
mandos der Wehrmacht am Militärschieß-
platz Wien-Kagran.
3
Mein Begleiter baut inzwischen sein
kleines Mikrofon auf. Die Interviews wer-
den archiviert und übertragen, erklärt er.
Dagegen hat David Holzer nichts einzu-
wenden. David Holzer beginnt zu erzählen.
Ich bin in Glanz geboren, im Jahre
1923, als jüngster Sohn meines gleichna-
migen Vaters. Meine Jugendzeit war gut,
ich habe Ziegen hüten müssen, war täglich
auf der Alm und habe zu Hause geholfen.
Und dann ist der Krieg gekommen. Im
April 1942 wurde ich zur Wehrmacht ver-
pflichtet. Bei der Wehrmacht habe ich
Nummer 6/2003
71. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
David Holzer hört
sich erzählen, von
seiner Kindheit und
Jugend im christ-
lich-sozialen bäuer-
lichen Elternhaus,
seiner Einberufung
zur
Wehrmacht,
seiner
Desertion,
seiner Gerichtsver-
handlung,
seiner
GESTAPO-Haft, er
hört sich erzählen
über den Transport
in das Militärstraf-
ge f angenen l age r
Börgermoor,
den
Judentransport, den
er in Wien gesehen
hat, er hört sich sto-
cken, er hört sich die
Stimme verlieren,
er hört sich weiter
erzählen über Hun-
ger und Gewalt im
Konzentrationslager,
den
täglichen
Kampf ums Überleben, die Zeit im Wehr-
machtsgefängnis Torgau, die Exekution
von Deserteuren, er hört sich erzählen über
seinen Fronteinsatz beim Bewährungs-
bataillon, er hört sich sagen,
dort warst du
immerhin ein Mensch, im Lager warst du
kein Mensch,
er hört seine Freude über das
Kriegsende. Er hört sich aufmerksam zu,
manchmal lacht er auf, bevor sich das Ge-
sicht wieder verfinstert. Die Verlaufsform
der Geschichte mit ihren tragischen Wen-
dungen, den Demütigungen, der Angst, der
Hoffnung auf einen Ausweg, das Mitleid
und die Schwierigkeit über sich selbst in
den Fängen des Nazi-Terrors zu sprechen,
spiegelt sich in seinem Gesicht wieder. Er
hört sich über Kopfhörer das Interview an,
das wir mit ihm geführt haben.
1
David Holzer kommt aus der Tenne her-
aus, als er das Auto in den Hof hereinfah-
ren hört. Zuvor haben wir bereits irrtüm-
lich auf einem anderen Bauernhof hier auf
dem Bergrücken zwischen Lienz und
Huben in Osttirol angeklopft. Wir können
also von unserer kleinen Irrfahrt erzählen,
Peter Pirker
„Da machen wir nicht mehr mit…“
Erinnerungen des Wehrmachtsdeserteurs David Holzer
David Holzer hat als einziger der drei Deserteure die brutale Verfolgung durch die Nazi-
Behörden überlebt. „Wir wollten ein freies Österreich.“
nachdem wir ihn begrüßt haben. David
Holzer ist 79 Jahre alt, nicht besonders
groß, drahtig. Er trägt ein bräunliches
Stoffsakko, wie man es bei älteren Bauern
oft sieht, den Hut trägt er etwas auf die
rechte Seite gezogen. Der Altbauer bewegt
sich behende, obwohl er einen Haselnuss-
stock benutzt. Er hat sich etwas Buben-
haftes bewahrt, seine Augen sind wach. Zu
unserer Überraschung weist er uns nach
der Begrüßung an, wieder in das Auto zu
steigen. Wir fahren zum Gasthaus in das
nahe gelegene Dorf Schlaiten.
Dort steckt David Holzer seinen Kopf in
den Schankraum und fragt die Kellnerin
um Zutritt zur großen Stube. Wir setzen uns
an einen großen Tisch. Im Hintergrund du-
delt Radio Tirol. David Holzer erzählt uns
von seiner Herzklappenoperation. Er sei
noch geschwächt. Er bittet um Verständnis,
wenn ihm das Erzählen vielleicht Schwie-
rigkeiten bereitet. David Holzer spricht
seine Sätze bestimmt aus, auch wenn an
ihnen eine gewisse Anstrengung hörbar ist.
In Martin Koflers Buch „Osttirol im Drit-
ten Reich“
2
habe ich ein paar Zeilen über