Seite 1 - H_2004_06-07

Basic HTML-Version

Nummer 6-7/2004
72. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Der Architekt, Schriftsteller und Kunst-
philosoph August Endell (1871 bis 1925)
beschreibt in dem um die Jahrhundert-
wende entstandenen Aufsatz „Die Schön-
heit der großen Stadt“ seine subjektiv
gewachsenen Konstrukte aus Erfahrung,
Wissen, Ordnung und Orientierung im
städtischen Umfeld. „Die große Stadt er-
scheint als Symbol, als stärkster Ausdruck
der vom Natürlichen, Einfachen und
Naiven abgewandten Kultur …“
1
Endell
philosophiert in diesem Zusammenhang
über die Degeneration des Zuviels an Städ-
tischem, an baulichen Ausführungen und
die daraus resultierende Exaltiertheit der
Anwender. Dieses Ordnungsprinzip, das
sich am Beginn des 20. Jahrhunderts fak-
tisch als Warnbotschaft erklären lässt, hat
insofern für die Menschen von heute Rele-
vanz, wenn man das Bedürfnis nach klein-
formatigen Kompartimenten, die häufig
mit nuancierten Individualismusbestre-
bungen konform gehen, erkennt und sie zur
zeitgeistigen Umsetzung heranführt. Es
geht nicht darum, der Revolution im Kopf
ihre kritiklose Ausführung zu gestatten.
Viel interessanter dabei sind jene Ideen
und Konzepte, die in ihrer Originalität Rei-
fungsprozesse erwarten und beabsichtigen.
Eine Stadt besticht durch ihre Bereit-
schaft zur individuellen Kleinteiligkeit
und durch ihre zynismusfremde Wertung
geistig errungener Ergebnisse. Selbstver-
ständlich beherrschen Pro und Contra die
Entscheidungsvielfalt, es ist aber nicht
selbstverständlich, dass der Zugang zu
jenen Konzepten sich nicht in ferner rele-
vanten Paraphrasen verliert und dadurch
unspektakulär wird.
Dementsprechend konnte in Lienz be-
reits in den 50er-Jahren des 20. Jahrhun-
derts, motiviert durch Enthusiasmus, Indi-
Eleonora Bliem-Scolari
40 Jahre Städtische Galerie Lienz
1964 bis 2004 – Die Entstehungsgeschichte einer Institution
Die Sonderausstellung „40 Jahre Städtische Galerie Lienz“ vom 15. Mai bis 7. Juni 2004
zeigte eine Auswahl von Objektankäufen der letzten Jahrzehnte. V. l.: Franziska Mikl-
Wibmer, Leopold Ganzer, Michaela Hirtl, Alois Fasching bis Friedl Fuetsch, Demetrius
Anastasatos und Jos Pirkner.
vidualismusbestreben und ein unumgäng-
liches Bedürfnis nach Akzeptanz in der un-
mittelbaren kulturellen Umgebung, jenes
Kondensat aus Kunstverständnis vorberei-
tet werden, das in den 60er-Jahren zur In-
stallation einer Städtischen Galerie führte.
Das Kunst- und Kulturleben einer Stadt
vermag Aufsehen erregende Dimensionen
einzunehmen – antagonistisch dazu ver-
bietet der oberflächliche Umgang mit dem
Resultat eines geistigen Produktes jede
nähere Auseinandersetzung. Im Speziellen
betrachtet, bedeutet der Kontakt mit der
bildenden Kunst ein „Abspielen“ von Er-
fahrungswerten, von eigenständigem Be-
urteilungsvermögen und nicht zuletzt von
Kooperationsbereitschaft, sich mit dem,
was man sieht, vertraut zu machen. Be-
züglich der Geistigkeit des Sichtbaren
kann man auch hier August Endell zitie-
ren: „Das Sichtbare ist als seelisches Er-
lebnis natürlich genau so geistig, genau so
ideal, als jede andere große Erregung der
Seele. Auch hier ist das Wesentliche über-
all nicht das Objekt, sondern das Gefühl,
die Erregung, die sie hervorruft.“
2
Zur Vorgeschichte: Die Entwicklung
der Kunstlandschaft in Osttirol
Die Voraussetzungen, durch die wir
heute die Möglichkeit haben, auf das
40-jährige Bestehen der Städtischen
Galerie in Lienz zurückblicken zu können,
gehen auf einen diffizilen Prozess der
Bestätigung und auf das Durchsetzungs-
vermögen einiger Osttiroler Kunstschaf-
fender bereits in den frühen 1950er-Jahren
zurück. Der Zweite Weltkrieg, die einher-
gehende Zerstörung und die folgende Ab-
hängigkeit der Menschen von erhaltenden
Grundbedürfnissen gestand der freien
Kunstentfaltung nur in einem sehr eng ge-
steckten Parcours ihre Verwirklichung zu.
Natürlich war man nach dem Krieg vor
allem in den größeren Städten bemüht,
dem Wiederaufbau auch im geistigen Sinn
den Nährboden zu liefern. An den Akade-
mien wurde der Lehrbetrieb wieder wie
gewohnt fortgeführt, und in Museen und
diversen Ausstellungslokationen setzten