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NUMMER 6/2006
74. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Im Thurner Ortsteil Oberdorf hat sich
aufgrund, aus volkskundlicher Sicht, be-
sonders glücklicher Umstände das Stuben-
haus des Kammerlanderhofes durch die
Jahrhunderte nahezu unverfälscht erhalten.
Das ca. 500 Jahre alte Haus ist nur durch
wenige Umbauten verändert worden, so
wurden im 18. Jahrhundert unter anderem
der heute bestehende Dachstuhl aufgesetzt
und im 19. Jahrhundert einige Fenster ver-
größert. Bereits 1545 ist der Hofname
„Kammerlander“ urkundlich belegt und seit
1689 kann die Besitzerreihenfolge kontinu-
ierlich archivalisch nachgewiesen werden
1
.
Die Paarhofanlage ist mit dem First senk-
recht nach Norden verlaufend in den Hang
gebaut. Das östlich des Stubenhauses lie-
gende Wirtschaftsgebäude, ein Pfeilerstadl
mit Stall im Untergeschoss und Tenne im
Obergeschoss, stammt aus dem 20. Jahr-
hundert
2
. Das zweigeschossige, in Misch-
bauweise (Erdgeschoss gemauert, Oberge-
schoss in Holzblockwerk) errichtete Wohn-
haus mit Satteldach ist durch einen
Mittelflur traufseitig erschlossen. An der
südlichen Giebelwand ragt der von der
Küche aus zu bedienende Backofen als
eigener kleiner Baukörper vor. Unter der
Stube befindet sich ein Kellerraum, der über
eine Außentreppe an der Südwand des Hau-
ses erreichbar ist. Im Obergeschoss zieht
der Söller entlang der Süd- und Ostwand,
im Bereich der Dachkammer ist ebenfalls
ein Balkon angebracht, hier sind an einigen
Baudetails (z. B. Konsolen) barocke Stil-
elemente erkennbar. In der Südostecke
springt der hölzerne, über beide Geschosse
reichende Abortanbau vor. Man betritt das
Stubenhaus durch das Segmentbogenportal
an der Ostseite, eine weitere Tür imWesten
führt in den Garten. Der Mittelflur, die
„Labe“, trennt die südseitigen Wohnräume
von den Vorratskammern im Norden. Die
Portale zu den einzelnen Räumen sind, bis
auf den Stubenzugang, segmentbogig mit
tiefen, abgefasten Gewänden. Südöstlich
befindet sich die Rauchküche mit dem
Schliefkamin in der Nordwestecke (dar-
unter ist die Ofentür zum Stubenofen
angebracht). An der dick verrußten Decke
ist noch das Gestänge, an dem der Speck
zum Selchen aufgehängt war, erhalten.
Westlich der Rauchküche schließt die
Stube an. Teilweise getäfelt, enthält sie die
umlaufende Stubenbank mit Speiskasten
und den regionaltypischen Tonnenofen. In
den Vorratsräumen „Speis“ (westlich) und
„Gaden“ (östlich) ist das schöne Sichtmau-
erwerk unverändert erhalten geblieben, das
Fragment eines Türblattes mit Renaissance-
handhabe (Sekundärverwendung) ist in die
Türe des Gadens eingearbeitet. Über die
Steintreppe an der westlichen Stirnwand der
Labe gelangt man ins Obergeschoss, das die
Schlafkammern und den ins Haus integrier-
ten Kornkasten enthält, wie er hauptsächlich
im Lienzer Talboden bei Häusern in Misch-
bauweise vorkommt (sonst sind in Osttirol
Kornkästen meist eigenständige kleine Bau-
werke aus Mauer- oder Blockwerk). Hier
sind die großen alten Korntruhen (eine da-
tiert mit „1745“) und Gerätschaften, die in
Zusammenhang mit Getreidebau bzw. -lage-
rung und Kornverarbeitung stehen, erhalten,
z. B. auch der aufgehängte Brotrahmen, der
vor Mäusen schützen sollte. Über die
schmale Blocktreppe gelangt man in den
Dachstuhl, der im südlichen Bereich eine
Dachkammer, die „Gitschnkammer“ enthält.
Von der Einrichtung sind einige schöne
Ladenkommoden (zwei bereits restauriert)
und der Biedermeierkasten im Vorraum zum
Kornkasten erwähnenswert. Hauptsächlich
haben sich aber viele alte Gerätschaften und
Werkzeuge, vorwiegend aus Holz, erhalten,
die eine Vorstellung von den mühsamen Be-
dingungen des einstigen bäuerlichen Wirt-
schaftens geben, aber auch die Erfindungs-
gabe und den Einfallsreichtum zur Lösung
der vielfältigen Aufgaben bezeugen.
Restaurierung (2002 bis 2006)
Im Zuge der Erhebungen für die Erstel-
lung des Tiroler Kunstkatasters und der
volkskundlichen Inventarisierung der
Österreichischen Kunsttopographie für
die in Vorbereitung befindlichen Bände des
Bezirks Lienz wurde Mag. Karl Wiesauer
auf das Gebäude aufmerksam. In der Folge
wurde das Stubenhaus aufgrund seines
Brigitte Ascherl
Der Kammerlanderhof in Thurn
Restaurierung und Neubelebung eines Denkmals der Osttiroler Volkskultur
Außenansicht des Kammerlanderhofs in Thurn nach der umfassenden Restaurierung
(Aufnahme Ende Mai 2006).
Foto: Raimund Mußhauser, Thurn